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S. VII An der Grenze des fünften und sechften Jahrhunderts unserer Zeitrechnung steht der Merovinger Ehlodovech, eine der hervorragendsten Gestalten der Weltgeschichte Sein Werk, die Gründung des fränkischen Reiches war von den weitgreifendsten und wichtigsten Folgen für die Entwickelung unseres Volkes, wie aller Völker des Abendlandes Denn während die anderen Herrschaftem welche germanische Stämme in den Grenzen des alten Römerreiches begründet hatten, nur von vorübergehender Dauer waren und über kurz oder lang wieder vor dem Schwerte sanken, wie sie mit dem Schwerte gewonnen waren, setzte sich die fränkische Macht für alle Zeiten auf dem gallischen Boden fest, und es bildeten sich hier Formen und Einrichtungen des staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens aus, welche den großen Gegensatz zwischen germanischem und römischem Wesen, in dem die Geschichte jener Zeit sich bewegte, auszugleichen und zu vermitteln imstande waren. Diese Formen haben in ihrer weiteren Entwickelung das gesamte Europa während des Mittelalters beherrscht, und nur allmählich und unter großen Kämpfen entzieht sich ihnen die neuere Zeit, um andere Grundlagen des Lebens zu gewinnen. "
Mit wunderbarer Schnelligkeit erwuchs das Frankenreich in Gallien. Jn engen Grenzen auf belgischem Boden herrschte Chlodovech zuerst, als er den Thron seiner Vorfahren bestiegen hatte. Somme und Maas schlossen damals noch die Sitze der salischen Franken ein, und selbst in diesem kleinen Gebiet mußte Ehlodovech die Herrschaft mit anderen Stammeskönigen teilen. Der Mittelpunkt« und die Hauptstadt seines Reiches war Tournay. Es gelang ihm, S. VIII das ganze Gebiet der Salier zu vereinen und der Römerherrschaft m Gallten durch eine glückliche Schlacht für immer ein Ende zu machen. Das Land bis zur Seine und bald darauf bis zur Loire wurde nun fränkisch, Soissons und dann Paris zur Hauptstadt des Reiches erwählt. Ein Teil der Salier siedelte sich in diesen Gegenden an, aber die romanische Bevölkerung wurde dadurch weder ganz verdrängt noch geknechtet. Sie behielt Grundbesitz, persönliche Freiheit, ja selbst ihr eigenes Recht, nicht einmal eine Landteilung schien erforderlich; wie durch ein gütliches Abkommen ordneten sich die neuen Verhältnisse. Auch waren die Einflüsse des römischen Wesens auf die Franken von vorn herein bedeutend. Der Sieger nahm alsbald die Religion der Besiegten an. Es war ein welthistorischer Moment, als Ehlodovech, der wilde Sicamber, vor dem Römer Remigius feinen Nacken beugte, sum die Taufe zu empfangen.
Seitdem tritt der Merovinger als Vorfechter der römischkatholischen Kirche gegen die irrgläubigen, wie gegen die heidnischen Könige und Stämme der Germanen auf. Er zieht nach Burgund, und der arianische König der Burgunder neigt sich der katholischen Kirche zu, um sein Reich zu bewahren. Die arianischen Westgothen verlieren im Kriege das Land südlich der Loire, Aquitanien fällt bis zur Garonne dem Sieger zu, der nicht als Eroberer, sondern als Befreier hier den katholischen Romanen erscheint. Zugleich breitet Ehlodovech seine Herrschaft über die Maas und weiter über den Rhein aus, er unterwirft sich damals noch heidnische Stämme der Germanen. Die ripuarischen Franken müssen ihn auf den Schild erheben und als König begrüßen; die nördlichen Gaue der Alamannen, die schon früher im Kriege gewonnen waren, werden von einerfränkischen Bevölkerung besetzt SchDU fürchtete der große Theoderich, alle germanifchen Reiche möchkeU dem Schwerte des glücklichen Kriegsfürsten erliegen: der Ostgothe nahm die alamannifchen Häuptlingch die sich UVch Ukchk SEVEUSt S. IX hatten, in seinen Schutz, rettete die letzten Reste der westgothischen Herrschaft in Gallien und suchte alle Könige germanischer Staaten gegen Ehlodovech zu vereinigen.
Nach Chlodovechs Tode gelang es zwar Theoderich auf kurze Zeit den weiteren Fortschritt des Merovingischen Reiches zu hemmen, aber bald traten Chlodovechs Söhne wieder in die Siegesbahn ihres Vaters ein. Das burgundische Reich fiel, und ganz Gallien mit Ausnahme der Provence und der Abhänge der Pyrenäen war nun in ihren Händen. Zugleich drang Theuderich, der älteste und tüchtigste Sohn Ehlodovechs, siegreich in das Herz Deutschlands ein und machte dem Thüringerreich ein Ende. Bei dem Verfall des Ostgotenreiches mußte endlich auch die Provence an die fränkischen Könige abgetreten werden, wie die Herzöge von Alamannien und Bayern sich den Merovingern unterwerfen. Schon machten die Könige des auftrasischen Anteils sächsische Stämme tributbar, ihre Heere hielten die östlichen Alpenländer und die Gegenden an der Etsch besetzt, bis in den Süden Italiens drangen sie erobernd vor. Ein Merovinger konnte sich gegen den Kaiser zu Konstantinopel rühmen, daß sein Reich sich vom Ozean und vom Sachsenlande bis zu der Donau und den Grenzen Pannoniens erstrecke, und mit einem Angriff auf Konstantinopel selbst drohen.
Diesen gewaltigen Umfang gewann das fränkische Reich in etwa fechzig Jahren. Nach der Sitte der Salier war es unter Chlodovechs Söhne geteilt worden, aber der jüngste derselben, Chlothar 1., vereinigte um die Mitte des sechsten Jahrhunderts wieder alle von den Franken unterworfenen Länder unter seiner Herrschaft. Auf seine Nachkommen ging diese ganze Ländermafse über, sie haben dann kaum etwas hinzugefügt, aber im Wesentlichen das Reich in diesem Umfange sich erhalten.
Es ist eine alte Erfahrung, daß es mehr Kraft und Klugheit erfordert, eine ausgedehnte Herrschaft zu bewahren, als sie zU gründen Um so mehr muß es jeden, der die Geschichte der S. X folgenden Zeiten betrachtet, mit Staunen erfüllen, daß dieses Reich, aus den verschiedenartigsten Teilen in Hast gleichsam zu, sammengerafft, trotz der fortdauernden Kämpfe gegen äußere Feinde, trotz vielfacher innerer Kriege, der offenkundigen Charakterschtväche der meisten Könige, des verwirrenden Einflusses zügelloser Weiber auf die Staatsangelegenheiten, der unsäglichen Erpressungen und Gewalttaten der königlichen Beamten und des dadurch erzeugten Unmuts der Völker nicht nur nicht zerfiel, sondern in der Hauptsache seine Machtstellung bewahrte. Eine Erscheinung, die nur daraus zu erklären ist, daß dieses Reich auf gleichsam natürlichen Grundlagen beruhte, die in der ihnen innewohnenden Festigkeit und Dauerhaftigkeit von der Macht und Willkür der Menschen nicht zu erschüttern waren.
Man hat viel darüber gestritten, ob diese Grundlagen des fränkischen Staates mehr germanischer oder romanischer Natur gewesen seien. Unleugbar ist allerdings, daß das geordnete Staats« leben der Römer auf die fränkischen Einrichtungen von Einfluß war. Die königliche Gewalt, wie groß sie immer von früh an bei den Saliern gewesen sein mag, wurde ohne Frage sehr erweitert, als die Regierungsrechte des Kaisers auf den siegreichen Merovinger übergingen. Das römische Steuerwesen war offen— bar die Grundlage des fränkischen und wurde nur in einzelnen, obschon erheblichen, Punkten modifiziert. Man wird bereitwillig dies und manche andere Einzelheiten zugeben und doch dabei beharren müssen, daß die bedeutendsten und einflußreichsten Institutionen des fränkischen Staates germanisch waren. Die Heerverfassung, der wichtigste Teil der Staatseinrichtungen in einer Zeit, wo nur mit dem stets gezückten Schwerte sich die Selbständigkeit der Staaten behaupten ließ, war rein germanischer Natur, und die Romanen mußten sich dem fremden Gesetze beugen. Die Standesverhältnisse wurden nach fränkischer Sitte geordnet, Freiheit und persönlicher Dienst beim Könige gab Ansehen und Macht, S. XI nicht mehr Verdienst-, Briefoder Geld-Adel, wie zu der Zeit des verfallenden Römerreiches Die Gerichtsverfassung war ebenfalls germanischen Ursprungs, und es ist nicht begründet, was vielfach behauptet wird, daß die Römer ihre besonderen richterlichen Beamten neben den fränkifchen behauptet hätten. Endlich beruht auch das wesentlich auf germanischer Anschauung und Denkweise, daß den einzelnen Landschaften, Bezirken und Städten, wie den verschiedenen Nationalitäten, soweit der Bestand des Reichs dadurch nicht gefährdet wurde, Raum zu freier Bewegung gelassen wurde, so daß den Römern nicht minder in ihren Rechtshändeln ihr eignes Recht und selbst die alte Verfassung ihrer Städte in gewissem Umfange blieb, als in derselben Weise die unterworfenen deutschen Stämme ihre lokalen Gesetze und Einrichtungen bewahrten.
Diese germanischen Institutionen, auf denen das Reich der Merovinger begründet war, erhielten fiel) aber dadurch frisch und lebenskräftig, daß die Salier bei ihren Eroberungen den Zusammenhang mit dem deutschen Boden nicht verloren. Nicht in weite Ferne waren sie bei ihrem Vordringen gezogens wie jene Stämme, denen mit der Luft und dem Boden der Heimat auch die ursprüngliche Kraft versiegt war. Das Merovingische Reich Umfaßte neben völlig romanisierten Gegenden auch Länder, wo die Römer niemals dauernd Fuß gefaßt hatten und wo die alte Sitte und Weise der Germanen noch wohnte. Von hier aus wuchs den Franken die Kraft zu, dem Römertum gegenüber ihre Selbständigkeit zu behaupten, und es ist wahrlich kein Spiel des Zufalls, daß, als das Königsgeschlecht der Salier immer mehr in Schwäche versank, die fkåtlkische Herrschaft von den Austrasiern, die sich von den Ein— Wirkungen römischen Wesens ferner gehalten hatten, aufrecht erhalten Wurde. Ohne diese festen Grundlagen germanischer Institutionen würde das fränkische Reich, so gut wie die anderen in der Völkerwanderung begründeten germanischen Staaten, nach kurzer Blüte verfallen fein. Denn jene verfielen nur deshalb, weil sie gegen S. XII VOS RZMMUM sich Uichk fkst gCUUg abgeschlossen und von der Fäulnis des römischen Staatslebens hatten anstecken lassen. Möge man immerhin in dem Mechanismus desselben ein Vorbild für unsre modernen Staatseinrichtungen suchen, in jenen Zeiten war ein Staat unhaltbar, der nicht in der Wehrhaftigkeit und der persönlichen Freiheit seiner Angehörigen seine Stärke sah.
So gewiß nun die frischen und kräftigen Triebe germanischen Wesens, welche die Einrichtungen des fränkischen Staats durchdrangen, ihn vor dem schleunigen Verfall bewahrt haben, so gewiß erwies sich doch in ihm das Römertum nach einer anderen Seite erhaltend. Ein tüchtiges und reiches Leben hatte sich in der katholischen Kirche Galliens entfaltet und war noch keineswegs erstorben, als Roms politische Macht hier sank. Der Umsturz und die Verwirrung aller weltlichen Verhältnisse wiesen tiefere Gemüter auf das Leben in Gott hin, und der Kampf gegen den Arianismus stählte und übte die geistigen Kräfte. Die Salier widersetzten sich der rechtgläubigen Lehre der römischen Kirche nicht, sie unterwarfen sich vielmehr gläubig den katholischen Bischösen und verbanden sich dadurch mit einer Macht, die eine große Zukunft vor sich hatte. Die gesamten kirchlichen Einrichtungen Galliens waren durch und durch römisch und gingen so in die fränkische Monarchie über. Das in sich zerfallende »und morsche Heidentum der Germanen war viel zu ohnmächtig, um noch irgend eine belebende Kraft auf die Gemüter üben zu können. Dem Arianismus fehlte die Glaubenskrafh welche die Welt überwindet. Die ganze weitere Entwickelung des religiösen Lebens beruhte damals auf der römischkatholischen Kirche. Jm Kampfe mit ihr wäre die fränkische Herrschaft erlegen, im Bunde mit ihr gewann sie an Festigkeit und hegte die Keime der Zukunft in sich.
Denn der germanische Staat und die römische Kirche beherrschten das ganze weitere Leben des Mittelalters. Beide verbanden und durchdrangen sich zlletst TU dem fkäUkkschCU Rkkchsä S. XIII und durch ihre Vereinigung gewannen alle Verhältnisse des Lebens eine neue Gestalt, die Gedanken der Menschen schlugen andere Richtungen und Wege ein, als vordem; nicht auf einen Schlag, sondern allmählich bildeten sich Sitte, Sprache und Gewohnheit der germanischen, wie der romanischen Völker so um, daß gemeinsame Mittelpunkte sich fanden, ein gleichmäßiges, großes System in den Staaten des Abendlandes hervortrat.
Bei der unermeßlichen Wichtigkeit dieser Entwickelung, die von dem fränkischen Reiche ausging, mußte die Geschichte desselben von jeher mit ganz besonderem Interesse verfolgt werden. Aber die Überlieferung ist nicht so zusammenhängend und vollständig, daß man alle Momente des großen Prozesses mit gleicher Genauigkeit verfolgen und bestimmen könnte. Namentlich haben wir für die Zeiten der Merovinger keinen Reichtum an Quellen. Die Grün-s dung des Reiches, die Geschichte seiner Blüte und die weiteren Schicksale desselben während des sechften Jahrhunderts kennen wir fast allein aus dem Werke, das hier in deutscher Übersetzung den Lesern vorgelegt wird. So viele Fragen es auch unerörtert und unbeantwortet läßt, so erkennt man doch bald die unberechenbare Bedeutung desselben, wenn man die anderen ganz dürftigen und unzureichenden Quellen dieser Zeit mit ihm in Vergleichung ftellt. Die zehn Bücher Fränkischer Geschichte des Gregorius von Tours bleiben, abgesehen von den vielen anziehenden Eigenschaften, die das Werk an sich auszeichnen, schon durch ihren Gegenstand eines der wichtigsten Erzeugnisse der gesamten geschichtlichen Literatur.