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Die der Erkenntniskraft entbehrenden Tiere wurden also durch keinerlei Gebote unterwiesen. Da sie keine Vernunft erhielten, erhielten sie auch kein Gesetz. Wo dagegen die Vernunft erleuchtend wirkt, da herrscht auch fromme Zucht, die Gott und dem Nächsten Liebe schuldet. Gibt es doch keinen anderen Beweis dafür, daß der Mensch sich selbst liebt, als wenn es sich zeigt, daß er für jenen, dem er seine Natur verdankt, noch mehr Liebe empfindet als für sich selbst, und für jenen, der mit ihm der gleichen Natur ist, ebenso wie für sich selbst. Mit Recht hängen an diesen zwei Geboten das ganze Gesetz und die Propheten1 . Mit Recht sind all die ausführlichen Belehrungen2 in diesen kurzen und wenigen Worten völlig erschöpfend zusammengefaßt. Unsere Liebe gelte Gott, unsere Liebe gelte auch dem Nächsten, indem wir das Vorbild dafür in der Liebe suchen, mit der Gott uns begegnet, er , der sogar gegen die Bösen gut ist und mit seinen Gnadengeschenken nicht nur jene bedenkt, die ihn ehren , sondern auch jene, die ihn verleugnen! Unsere Liebe erstrecke sich auf Verwandte, erstrecke sich auf Fremde, und was man Freunden schuldet, das erweise man erst recht den Feinden! Und mag sich auch die Bosheit mancher durch S. 74keinerlei Menschenfreundlichkeit besänftigen lassen, so bleiben doch die Werke der Nächstenliebe nicht unfruchtbar. Nie ist für den Wohlwollenden verloren, was er einem undankbaren erweist. Niemand, Geliebteste, halte sich von guten Werken fern, niemand gebrauche seine Dürftigkeit zum Vorwand, gleich als ob jener, der selbst nur mit Mühe sein Auskommen findet, nicht auch noch einen anderen unterstützen könnte! Groß ist, was er aus Kleinem zu leisten vermag, und auf der Wage der göttlichen Gerechtigkeit werden die Gaben nicht nach ihrer Menge , sondern nach dem Maße der dabei gezeigten Gesinnung gewogen. Die Witwe im Evangelium warf zwei Hellerstücke in den Opferkasten und übertraf damit die Spenden aller Reichen3 .
Kein Werk der Liebe ist vor Gott ohne Bedeutung, kein Werk des Erbarmens ohne Frucht. Verschieden ist zwar der Besitz, den er den Menschen gab, nicht verschieden aber die Liebe, die er verlangt. Jeder schätze seinen Besitz, und wer mehr empfangen, der möge auch mehr geben! Aus dem Fasten der Gläubigen werde eine Speisung der Armen, und dem Dürftigen komme zugute, was man sich selbst versagt! Denn wenn auch die verschiedenen Mittel der Enthaltsamkeit Leib und Seele noch so zuträglich sind, so bringt doch selbst das Fasten nur geringen Gewinn, wenn es nicht durch eine barmherzige Tat geheiligt wird. Besitzen ja die Almosen sozusagen die Kraft der Taufe; denn wie das Wasser das Feuer tilgt, so tilgt das Almosen die Sünde. Und durch denselben Christus hören wir: "Waschet euch, seid rein!4 , durch den uns zugerufen wird: "Gebet Almosen, und alles ist euch rein!"5 , auf daß niemand daran zweifle, niemand dagegen Mißtrauen hege, daß ihm der durch die Wiedergeburt6 erlangte Strahlenglanz selbst nach vielen Sünden aufsneue zuteil wird, wenn er darnach strebte, sich durch die sühnende Kraft des Almosens zu reinigen.