VIII. Kapitel: Von Anastasius,1 Abt des Klosters Suppentonia2
Gregorius. Zu derselben Zeit war der vorher erwähnte ehrwürdige Anastasius Notar der heiligen römischen Kirche, der ich nach Gottes Ratschluß diene. Da er sich Gott allein widmen wollte, verließ er den Aktenschrank, wählte sich ein Kloster und verlebte an dem schon genannten Ort, der Suppentonia hieß, viele Jahre unter heiligen Werken und stand dem Kloster in emsiger Wachsamkeit vor. Diesen Ort überragt ein mächtiger Fels, während nach unten sich ein gewaltiger Abgrund auftut. In einer Nacht nun, da Gott der Allmächtige bereits beschlossen hatte, den ehrwürdigen Anastasius für seine Mühen zu belohnen, ertönte hoch vom Felsen herab eine Stimme, welche in langgezogenem Tone rief: „Anastasius, komm!” Nach ihm wurden noch sieben andere Brüder mit Namen genannt. Während einer kleinen Pause schwieg die Stimme und nannte darauf einen achten Bruder. Dem Konvent, der die Stimme deutlich vernahm, stand es unbezweifelbar fest, daß für die Genannten das Ende herangekommen sei. Wirklich starb der ehrwürdige Anastasius innerhalb weniger Tage; die übrigen wurden in der Reihenfolge, in der ihre Namen von dem Gipfel des Felsens herab gerufen worden waren, aus dem Leben hinweggenommen. Der S. 29 Bruder aber, bei dessen Namen die Stimme zuerst etwas innehielt und ihn erst dann nannte, überlebte die Sterbenden um einige Tage und segnete dann das Zeitliche; damit wurde deutlich erwiesen, daß das Schweigen der Stimme eine kurze Lebensfrist bedeutet hatte. Aber noch etwas Wunderbares trug sich zu. Als nämlich der ehrwürdige Anastasius verschied, befand sich im Kloster ein Bruder, der ohne ihn nicht länger leben wollte. Er warf sich zu seinen Füßen nieder und flehte ihn unter Tränen an: „Ich beschwöre dich bei demjenigen, zu dem du gehst, laß mich nicht länger als sieben Tage nach dir auf dieser Welt zurück!” Auch dieser starb noch vor Ablauf des siebenten Tages, obwohl er in jener Nacht nicht mit den übrigen genannt worden war. Daraus erhellt klar, daß sein Tod nur durch die Fürbitte des ehrwürdigen Anastasius erlangt wurde.
Petrus. Da dieser Bruder nicht mit den anderen genannt wurde, sondern auf die Fürbitte des Heiligen aus diesem Lichte hinweggenommen wurde, was anders bleibt da noch übrig als anzunehmen, daß verdienstvolle Heilige bei Gott manchmal etwas erlangen können, was nicht vorher bestimmt ist?
Gregorius. Nein, sie können keineswegs etwas erlangen, was nicht vorausbestimmt ist, sondern das, was die heiligen Männer durch ihr Gebet erreichen, ist eben in der Weise vorausbestimmt, daß es erst durch Gebete erlangt werden soll. Denn auch selbst die Vorherbestimmung des ewigen Lebens ist von Gott so getroffen, daß die Auserwählten durch ihre Anstrengung zu demselben gelangen sollen, insofern sie so durch ihr Gebet verdienen, was der allmächtige Gott ihnen von Ewigkeit her zu schenken beschlossen hat.
Petrus. Ich bitte, lege mir noch deutlicher dar, wie die Vorherbestimmung durch Gebet unterstützt werden kann.
Gregorius. Was ich sagte, Petrus, läßt sich schnell beweisen. Du weißt nämlich sicherlich, daß der Herr zu S. 30 Abraham sprach: „Nach Isaak wird dein Same genannt werden.”3 Er sagte auch zu ihm: „Ich habe dich zum Vater vieler Völker gemacht.”4 Und wiederum gab er ihm die Verheißung: „Ich will dich segnen und deinen Samen mehren wie die Sterne des Himmels und wie den Sand, der am Ufer des Meeres ist.”5 Daraus erhellt offenbar, daß Gott der Allmächtige beschlossen hatte, den Samen Abrahams durch Isaak zu vermehren, und dennoch steht geschrieben: „Und Isaak flehte zu dem Herrn für sein Weib, weil es unfruchtbar war: und er erhörte ihn und ließ Rebekka empfangen.”6 Wenn nun aber die Vermehrung von Abrahams Geschlecht durch Isaak vorherbestimmt war, warum bekam er eine Unfruchtbare zur Frau? Es geht doch daraus klar hervor, daß die Vorherbestimmung durch Gebet zur Wirklichkeit wird, wenn derjenige, in dem Gott den Samen Abrahams vermehren wollte, durch Gebet Nachkommen erlangt.
Petrus. Da die Begründung das Dunkel aufhellte, bleibt mir kein Zweifel mehr übrig,
Gregorius. Soll ich dir nun etwas aus dem Gebiet von Tuscien erzählen, damit du siehst, welche Männer dort gelebt haben und wie nahe sie der Erkenntnis Gottes waren?
Petrus. Ja, ich wünsche es und bitte sehr darum.