XV. Kapitel: Vom Hingang der Dienerin Gottes Romula1
Ich erinnere mich an ein Ereignis, das ich gleichfalls in den Homilien erzählt habe.2 Mein Mitpriester Speciosus, der von der Sache wußte, hat mir meine Erzählung bestätigt. Zu der Zeit nämlich, als ich ins Kloster ging, lebte eine alte Frau namens Redempta als Klosterfrau und hielt sich in der Nähe der Kirche der heiligen allezeit jungfräulichen Maria auf. Sie war eine Schülerin jener Herundo, welche, reich an großen Tugenden, in den Pränestinerbergen ein Einsiedlerleben geführt haben soll. Bei dieser Redempta lebten zwei Schülerinnen, gleichfalls im Ordensgewande, eine namens Romula und eine andere, die noch lebt und die ich zwar von Angesicht, nicht aber dem Namen nach kenne. Diese drei hatten eine gemeinsame Wohnung und führten ein Leben reich an Tugenden, aber arm an irdischen Gütern. Die vorgenannte Romula aber übertraf ihre Mitschülerin noch durch ihren höchst verdienstlichen Lebenswandel. Denn sie war wunderbar geduldig, bis ins kleinste gehorsam, beobachtete das Stillschweigen und betete ununterbrochen. Aber für gewöhnlich haben solche Menschen, welche man schon für vollkommen hält, doch noch in den Augen des höchsten Bildners etwas Unvollkommenes an sich; kommt es ja doch oft vor, daß wir bei mangelhaftem Kunstverständnis S. 206 unfertige Siegelstöcke besichtigen und sie loben, als wären sie schon fertig, während doch der Künstler sie noch immer beschaut und feilt und nicht aufhört, den nachbessernden Meißel anzusetzen, obwohl er schon ihr Lob hört. Geradeso wurde Romula von einer körperlichen Krankheit, die die Ärzte mit einem griechischen Worte Paralysis nennen, heimgesucht; viele Jahre lang war sie bettlägerig und konnte fast gar kein Glied regen. Auch diese Heimsuchung konnte ihre Seele nicht zur Ungeduld verleiten. Gerade der Verlust des Gebrauches ihrer Glieder gereichte ihr zum Wachstum in der Tugend; denn sie wurde um so eifriger in der Übung des Gebetes, je weniger sie irgend etwas anderes zu tun imstande war. Einmal rief sie nachts die erwähnte Redempta, welche die beiden Schülerinnen wie Töchter aufzog, mit den Worten: „Mutter, komm! Mutter, komm!” Diese stand sogleich mit der anderen Mitschülerin auf. Beide haben dann später den Vorgang erzählt; so ist er vielen bekannt geworden und auch ich habe ihn damals erfahren. Während sie also mitten in der Nacht am Bett der Kranken standen, kam plötzlich ein Licht vom Himmel und erleuchtete die ganze Zelle; der Lichtglanz war so groß, daß die Umstehenden innerlich vor Furcht ganz erschauderten und, wie sie nachher erzählten, am ganzen Körper erstarrten und in jähem Schrecken dastanden. Denn man vernahm ein Geräusch, als ob eine große Menge von Leuten eintrete, und die Türe der Zelle ging auf und zu, gleich als ob sie von einer eintretenden Schar benützt würde. Nach ihrer Aussage hatten sie zwar das Gefühl, als ob viele Leute hereinkämen, sehen konnten sie diese aber vor großem Schrecken und wegen des Lichtglanzes nicht; denn wegen des Schreckens schlugen sie die Augen nieder und vom Lichtglanz waren sie ganz geblendet. Auf das Licht folgte auf einmal ein wunderbarer Wohlgeruch, und ihr Herz, das der Lichtstrom in Schrecken versetzt hatte, erfreute sich nun an dem S. 207 süßen Wohlgeruch. Da sie den hellen Glanz nicht ertragen konnten, tröstete Romula ihre zitternde Tugendlehrerin Redempta mit freundlichen Worten und sprach; „Fürchte dich nicht, Mutter, ich sterbe jetzt nicht!” Während sie dies öfter wiederholte, verschwand allmählig das Licht, das sich verbreitet hatte, aber der später hinzugekommene Wohlgeruch blieb. So verging der zweite und dritte Tag, ohne daß der liebliche Geruch gewichen wäre. In der vierten Nacht rief sie wieder ihre Lehrerin, bat um die heilige Wegzehrung und empfing sie. Noch waren aber Redempta und die andere Schülerin nicht von dem Bette der Kranken weggegangen, siehe, da standen plötzlich auf dem Platz vor ihrer Zellentüre zwei psalmensingende Chöre; man konnte nach ihrer Aussage in den Stimmen verschiedene Geschlechter erkennen; die Männer sangen den Psalmvers vor, während die Frauen respondierten. Während vor der Zellentüre sich diese himmlische Besingnis3 vollzog, schied die heilige Seele vom Leibe. Die Sängerchöre begleiteten sie gen Himmel, und je höher sie hinaufkamen, desto leiser hörte man den Psalmengesang, bis der Gesang und der Wohlgeruch wegen der Entfernung schließlich ganz aufhörten.