XXVI. Kapitel: Auf welche Weise die Sterbenden etwas vorhersagen; von einem Advokaten, von den Mönchen Gerontius und Mellitus und von einem Rinderhirten
Gregorius. Die Kraft der Seele sieht manchmal etwas durch ihre Feinheit voraus, manchmal aber erkennen die Seelen bei ihrem Abscheiden aus dem Leibe etwas Zukünftiges vermöge innerer Offenbarung. Zuweilen aber richten sie, wenn sie dem Abscheiden nahe sind, das unkörperliche Geistesauge durch göttliche Einwirkung auf die Geheimnisse des Himmels. Daß die Kraft der Seele bisweilen durch deren Feinheit Zukünftiges erkennt, erhellt daraus, daß der Advokat Cumquodeus1 von hier, der vor zwei Tagen an Seitenschmerz gestorben ist, kurz vor seinem Tode den Diener rief und ihm befahl, ihm die Kleider zum Ausgehen bereitzurichten. S. 218 Da der Diener dies für ein Irrereden hielt und dem Befehl nicht nachkam, stand der Kranke auf, kleidete sich an und erklärte, er gehe auf die Via Appia zur Kirche des heiligen Xystus. Kurz darauf verschlimmerte sich die Krankheit und er starb. Es wurde ausgemacht, seinen Leichnam beim heiligen Märtyrer Januarius an der Via Pränestina zu bestatten. Da dies aber den Leichenträgern zu weit war, besannen sie sich eines andern, gingen mit der Leiche zur Via Appia und begruben ihn, ohne zu wissen, was er gesagt hatte, gerade in jener Kirche, die er vorher genannt hatte. Da wir nun wissen, daß dieser Mann in zeitliche Sorgen verstrickt war und irdischem Gewinn nachjagte, wie konnte er dies voraussagen, wenn nicht die Kraft und Feinheit der Seele voraussah, was mit seinem Leibe geschehen werde?
Daß es aber auch oft von Offenbarungen herrührt, wenn Sterbende die Zukunft vorauswissen, können wir aus dem schließen, was sich in unsern Klöstern zugetragen hat. In meinem Kloster lebte nämlich vor zehn Jahren ein Bruder namens Gerontius. Als dieser schwer krank darniederlag, sah er in einem nächtlichen Gesicht weißgekleidete Männer von überaus glänzendem Aussehen von oben her in das Kloster kommen. Sie traten vor das Bett des Kranken und einer von ihnen sprach: „Wir sind gekommen, um aus des Gregorius Kloster einige Brüder dem Heere einzuverleiben.” Und er befahl einem andern: „Schreibe den Marzellus, den Valentinian, den Agnellus auf” und noch andere, deren ich mich nicht mehr entsinne. Hierauf fügte er bei: „Schreibe auch diesen hier auf, der uns zusieht.” Durch diese Erscheinung vergewissert, teilte der erwähnte Bruder am Morgen seinen Mitbrüdern mit, wer im Kloster in kurzer Zeit sterben würde. Als am andern Tage die erwähnten Brüder starben und in derselben Ordnung sich im Tode folgten, in welcher sie aufgeschrieben worden waren, erklärte er, auch er werde diesen folgen. Zuletzt starb er selbst, der den Tod der Brüder vorausgesehen hatte. S. 219
Bei dem großen Sterben ferner, das vor drei Jahren die Stadt ganz verödete, lebte in einem Kloster der Hafenstadt2 ein Mönch namens Mellitus, noch jung an Jahren, aber ein Mann von wunderbarer Einfalt und Demut. Da der Tag seiner Abberufung zu Gott herannahte, wurde er von der Seuche ergriffen und lag im Sterben, Als dies der ehrwürdige Felix, der Bischof der Stadt, von dem ich die Sache erfahren habe, hörte, ging er sogleich zu ihm, sprach ihm zu, er solle das Sterben nicht fürchten, und versprach ihm von Gottes Barmherzigkeit eine noch längere Lebenszeit. Jener aber erwiderte darauf, seine Lebenszeit sei zu Ende, und es sei ihm ein Jüngling erschienen, der habe ihm einen Brief gebracht und gesagt: „öffne und lies!” Er habe den Brief geöffnet und, so sagte er, gesehen, daß er und alle, welche damals von dem Bischof am Osterfeste waren getauft worden, mit goldenen Buchstaben in dem Brief verzeichnet waren. Und zwar fand er seinen Namen an erster Stelle und darnach die Namen aller damals Getauften. Deshalb hielt er es für gewiß, daß er und diese andern schnell aus dem Leben scheiden würden. Und wirklich starb er an demselben Tag und all seine Mittäuflinge folgten ihm so schnell nach, daß in wenigen Tagen sich keiner mehr am Leben befand. Gewiß sah der erwähnte Diener Gottes sie deshalb mit goldenen Buchstaben geschrieben, weil die ewige Herrlichkeit ihre Namen eingetragen hatte.
Wie nun diese die Zukunft durch Offenbarungen erkennen konnten, so können bisweilen abscheidende Seelen die Geheimnisse des Himmels nicht etwa im Traum, sondern im wachen Zustand vorauskosten. Du kennst ja gut den Ammonius, einen Mönch meines Klosters, der, als er noch in der Welt war, sich mit der leiblichen Tochter des hiesigen Advokaten Valerian vermählte, sich dessen Dienst mit ununterbrochener Emsigkeit hingab und von allem wußte, was im Hause vorging. Später, S. 220 im Kloster, erzählte er mir, es habe sich während der Krankheit, die zur Zeit des Patriziers Narses3 diese Stadt verheerte, im Hause dieses Valerian ein junger Rinderhirte befunden, voll Einfalt und Demut. Als die Seuche auch im Hause des Advokaten wütete, wurde dieser Diener von ihr ergriffen und es kam mit ihm zum Sterben. Plötzlich wurde er einmal entrückt; als er wieder zu sich kam, ließ er seinen Herrn rufen und sagte zu ihm: „Ich war im Himmel und habe erfahren, wer aus diesem Hause sterben wird. Der und der und dieser werden sterben; du aber fürchte dich nicht, denn für jetzt wirst du nicht sterben. Damit du aber erkennest, daß ich die Wahrheit sage, wenn ich behaupte, ich sei im Himmel gewesen, sieh, so habe ich dort die Gabe empfangen, in allen Sprachen zu sprechen. Du weißt recht wohl, daß ich die griechische Sprache nicht kann, und doch, sprich griechisch, damit du siehst, daß ich wirklich die Kenntnis aller Sprachen erhalten habe. Darauf redete sein Herr ihn griechisch an und er antwortete in derselben Sprache, so daß alle Anwesenden sich verwunderten. In demselben Hause wohnte ein Bulgar, ein Schwertträger des erwähnten Narses; eilig wurde er zu dem Kranken geführt und er redete ihn in bulgarischer Sprache an; der in Italien geborene und erzogene Diener aber antwortete in jenem fremden Idiom, als ob er bei jenem Volke geboren wäre. Alle, die es hörten, wunderten sich, und nachdem sie an zwei Sprachen, von denen sie wußten, daß er sie früher nicht gekannt hatte, die Probe gemacht hatten, glaubten sie, daß er alle verstehe, auch jene, von denen sie es nicht erproben konnten. Zwei Tage schob sich sein Tod noch hinaus, aber am dritten Tage zerfleischte er - aus welchem verborgenen Urteil Gottes das geschah, das weiß man nicht - die Arme und Hände mit den Zähnen und schied so vom Körper. Nach seinem Tode starben schnell alle dahin, von denen er es vorausgesagt S. 221 hatte, und niemand starb während jener Heimsuchung aus dem betreffenden Hause, den nicht sein Mund vorausgenannt hatte.
Petrus. Es ist sehr schrecklich, daß einer, der ein solches Geschenk verdiente, hernach eine solche Strafe erleiden mußte.
Gregorius. Wer kann das verborgene Gericht Gottes kennen? Was wir bei einem göttlichen Gerichte nicht begreifen können, das müssen wir eher fürchten als es untersuchen.