XII. Kapitel: Von dem Presbyter Severus1 aus derselben Provinz
In jener Gegend heißt ein Tal Interorina,2 das von S. 47 vielen im Volksdialekt Interocrina genannt wird. Dort lebte ein Mann von bewundernswertem Lebenswandel namens Severus, Priester an der Kirche der seligen Gottesmutter und immerwährenden Jungfrau Maria. Zu ihm schickte einmal ein Hausvater, der sein Ende herannahen sah, eilends Boten und ließ ihn bitten, er möge doch möglichst rasch kommen und durch sein Gebet für seine Sünden Fürsprache einlegen, damit er so für das Böse noch Buße tun und frei von Schuld aus dem Leben scheiden könne. Nun traf es sich, daß dieser Priester zufälligerweise gerade mit dem Beschneiden seines Weinbergs beschäftigt war; er sagte deshalb zu den Boten: „Gehet voraus, ich komme gleich nach!” Denn da er sah, daß ihm nur noch ein wenig zu tun übrig blieb, hielt er sich etwas auf, um das bißchen Arbeit, das noch zu tun war, zu vollenden. Als das geschehen war, ging er zum Kranken. Auf dem Wege kamen ihm schon jene, die vorher bei ihm gewesen waren, entgegen und sagten: „Vater, warum hast du gezögert? Bemühe dich nicht mehr, denn er ist schon gestorben.” Als er dies hörte, erschrak er und rief laut, er sei sein Mörder. Weinend kam er zum Leichnam des Verschiedenen und warf sich unter Tränen vor seinem Bette nieder. Während er heftig weinte, sein Haupt auf den Boden stieß und rief, er sei schuld an dessen Tod, erwachte der Verstorbene plötzlich wieder zum Leben. Die vielen Umstehenden, die es sahen, stießen Schreie der Verwunderung aus und weinten nun vor Freude noch mehr. Als sie ihn dann fragten, wo er war, oder wie er wieder hergekommen sei, sagte er: „Häßliche Leute führten mich davon; aus Mund und Nase kam ihnen ein Feuer, das ich nicht ertragen konnte. Während sie mich durch finstere Orte führten, kam plötzlich ein Jüngling von schönem Aussehen mit noch anderen uns entgegen und sagte zu denen, die mich schleppten: ‘Führt ihn wieder zurück, denn der Presbyter Severus weint um ihn; seinen Tränen hat ihn der Herr wieder geschenkt.’” Sogleich S. 48 erhob sich Severus vom Boden und half ihm, als er Buße tat, mit seiner Fürsprache. Und nachdem der wiedererweckte Kranke sieben Tage lang für die begangenen Sünden Buße getan hatte, schied er am achten Tage freudig aus dem Leben. Siehe, Petrus, ich bitte, wie sehr der Herr diesen Severus, von dem wir reden, als seinen Liebling behandelt hat, da er ihn nicht einmal kurze Zeit in Trauer lassen konnte.
Petrus. Diese Dinge, die mir bis jetzt unbekannt waren, sind höchst wunderbar. Aber was sagen wir dazu, daß man jetzt solche Männer nicht mehr finden kann?
Gregorius. Ich glaube, Petrus, daß uns auch heute eine große Anzahl solcher Männer nicht mangelt; denn deswegen, weil sie keine solchen Wunder tun, müssen sie ihnen nicht ungleich sein. Denn der wahre Wert des Lebens liegt in der Tugend und nicht im Wunderwirken. Es gibt sehr viele, die, ohne Wunder zu wirken, dennoch den Wundertätern nicht nachstehen.
Petrus. Wie kann man mir, ich bitte, dies beweisen, daß es viele gibt, die zwar keine Wunder tun und die trotzdem den Wundertätern nicht unähnlich sind?
Gregorius. Weißt du etwa nicht, daß der Apostel Paulus im Apostelamte ein Bruder des Apostelfürsten Petrus ist?
Petrus. Gewiß, das weiß ich, und es unterliegt keinem Zweifel, daß er, obwohl der geringste unter den Aposteln, doch am meisten unter allen gearbeitet hat.
Gregorius. Wie du dich gewiß erinnerst, wandelte Petrus auf dem Meere. Paulus aber erlitt Schiffbruch auf dem Meere; es war auf demselben Elemente: Paulus konnte dort nicht zu Schiff fortkommen, wo Petrus zu Fuß ging. Es ist also ganz klar, daß demnach beider Verdienst im Himmel gleich ist, wenn auch beider Wunderkraft ungleich ist.
Petrus. Ich gestehe, das Gesagte gefällt mir; denn jetzt erkenne ich deutlich, daß man auf das Leben und nicht auf die Wunder schauen muß. Doch da die S. 49 Wunder, die geschehen, gerade von einem guten Leben Zeugnis geben, so bitte ich dich, fortzufahren, wenn du noch welche weißt, um so meine Neugier durch gute Beispiele zu befriedigen.
Gregorius. Ich möchte dir zum Lobe des Erlösers einiges von den Wundern des ehrwürdigen Mannes Benediktus erzählen, aber ich sehe, daß dazu heute die Zeit nicht mehr reicht. Wir können ungehinderter darüber sprechen, wenn wir damit ein anderes Mal beginnen. S. 50