19.
Wie kann man sagen, daß alle Menschen sie empfangen würden, wenn nicht jene, denen sie nicht gegeben wird, sie aus eigenem Antrieb verschmähten, weil „Gott will, daß alle Menschen selig werden”1, während sie doch vielen kleinen Kindern nicht gegeben wird und viele ohne sie sterben? Und doch haben sie keinen entgegengesetzten S. 783 Willen, bisweilen tragen auch die Eltern danach Verlangen und säumen nicht, auch die Ausspender haben den besten Willen und sind in Bereitschaft — nur Gott will nicht, daß sie gegeben wird, und läßt das Kind, um dessentwillen man sich beeilte, damit es sie empfange, vor dem Empfange dahinsterben. Es ist also klar, daß jene, die dieser offenbaren Wahrheit widerstreben, überhaupt nicht verstehen, in welchem Sinne gesagt ist „Gott will, daß alle Menschen selig werden“, während doch so viele nicht selig werden, nicht weil sie selbst nicht wollen, sondern weil Gott nicht will, wie sich ohne jede Unklarheit an den kleinen Kindern zeigt. Wie aber die Stelle: „Alle werden in Christus lebendig gemacht werden“2 im Hinblick auf so viele, die mit dem ewigen Tode bestraft werden, so zu verstehen ist, daß alle, die das ewige Leben erlangen, es nur in Christus erlangen — so ist auch die Stelle: „Gott will, daß alle Menschen selig werden“ in Rücksicht darauf, daß er dies bei so vielen nicht will, dahin zu verstehen, daß alle, die selig werden, es nur durch seinen Willen werden. Man mag indessen von diesen Worten des Apostels auch eine andere Erklärung geben, wenn sie nur der ganz offenbaren Wahrheit nicht widerspricht, die uns zeigt, daß so viele Menschen selig werden wollen, aber es nicht werden, weil Gott es nicht will3.
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1 Tim 2, 4. ↩
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1Kor. 15, 22. ↩
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Die Erklärung, die der hl. Augustinus von der angeführten Stelle gibt, ist keineswegs die bei den Vätern und Theologen übliche. Sie erklärt sich vielmehr von selbst, wenn wir uns an die Lehre der Kirche erinnern, daß Gott jedem Menschen hinreichende Gnade gebe, um zur ewigen Seligkeit zu gelangen. ↩