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Vier Bücher über die christliche Lehre (BKV)
3. Kapitel: Soweit sich eine Beredsamkeit überhaupt schulmäßig erlernen läßt, soll dies in der Jugendzeit geschehen
4. Wenn nun zu allen sachlichen Beobachtungen und Vorschriften auch noch die sorgfältige Vertrautheit mit einer in Wortfülle und Redeschmuck wohlgeübten Sprache hinzutritt, so entsteht das, was man Wohlredenheit oder Beredsamkeit heißt. Eine solche Kenntnis S. 163soll außerhalb des Kreises des von uns behandelten Wissens innerhalb einer eigens hiefür bestimmten angemessenen Zeit in dem dazu passenden und geeigneten Alter von denjenigen erlernt werden, die hiezu schnell imstande sind; denn sogar die Fürsten der römischen Beredsamkeit1 standen nicht an zu behaupten, wer diese Kunst nicht schnell erlernen könne, der sei überhaupt unfähig, sie gründlich zu erlernen. Die Frage, ob diese Behauptung wahr sei, brauche ich nicht zu untersuchen. Denn wenn diese Vorschriften wirklich auch von langsamen Köpfen endlich einmal erlernt werden könnten, so legen wir ihnen doch keinen so großen Wert bei, daß wir für ihre Erlernung noch ein schon reifes oder gar schon vorgerücktes Alter verwendet wissen wollten. Es genügt, daß sich die Jünglinge damit befassen, und das ist nicht einmal für all diejenigen notwendig, die wir für den Dienst der Kirche erziehen wollen, sondern nur für jene, die vorläufig noch kein dringenderes Geschäft in Anspruch nimmt, das ohne Zweifel vor der Rhetorik den Vorrang verdiente. Denn wenn der Geist scharf und lebhaft ist, so fällt die Beredsamkeit eher solchen zu, welche gleich praktisch die Schriften beredter Männer lesen und ihre Reden hören, als jenen, welche die Vorschriften der Beredsamkeit bloß theoretisch befolgen. Es fehlt auch, ganz abgesehen von dem in der Burg der (kirchlichen) Autorität zum Heile aufgestellten Kanon, nicht an anderen kirchlichen Schriften, durch deren Lektüre ein fähiger Mann, selbst wenn er nur auf den sachlichen Inhalt achtet, dabei gleichwohl ganz unabsichtlich auch von der Beredsamkeit berührt wird, mit der sie vorgetragen werden. Dies gilt namentlich dann, wenn auch noch Übung im Schreiben oder Diktieren und zuletzt im mündlichen Vertrag über dasjenige hinzukommt, was er nach der Richtschnur des frommen Glaubens denkt. Wo aber eine natürliche Anlage zur Beredsamkeit fehlt, da S. 164werden weder die Vorschriften der Rhetorik begriffen noch nützen sie etwas, wenn trotz großer Mühe ihr Verständnis nur zu einem kleinen Teil eingebläut werden konnte. Ja selbst wer sie tatsächlich erlernt hat und mit Wortfülle und Redeschmuck zu sprechen weiß, kann nicht immer während des Redens daran denken, seinen Regeln gemäß zu sprechen; es müßte denn schon sein, daß er eigens über die Vorschriften (der Rhetorik) redete. Ich glaube vielmehr, daß es auch unter den in der Rhetorik Geschulten kaum den einen oder anderen gibt, der beides zugleich kann: nämlich gut sprechen und während des Redens zu diesem Zweck an jene Vorschriften über das Reden denken. Denn man hat zu besorgen, es möchte der Inhalt der Rede dem Gedächtnisse entfallen, während man auf eine kunstvolle Form der Rede acht gibt. Und doch sind in den Reden und Aussprüchen beredter Männer die Vorschriften der Beredsamkeit erfüllt, an die sie zum Zwecke oder bei Gelegenheit des Redens nicht gedacht haben, mögen sie nun sonst dieselben gelernt oder sich gar nie um sie gekümmert haben. Denn sie erfüllen die Vorschriften der Rhetorik, weil sie eben beredt sind, wenden sie aber nicht deshalb an, um beredt zu sein.
5. Da nun auch die unmündigen Kinder nur durch das Einlernen der Worte Erwachsener selbst reden lernen, warum sollten dann die Menschen nicht ohne alle (theoretische) Kenntnis der Rhetorik beredt werden können, wenn sie bloß die Ausdrücke beredter Männer lesen oder hören und soweit als möglich nachahmen? Sehen wir diese Möglichkeit nicht auch tatsächlich durch Beispiele bestätigt? Wir wissen doch, daß sehr viele ohne im Besitze der rhetorischen Vorschriften zu sein, viel beredter sprechen als gar manche, die sie gelernt haben, während andererseits niemand beredt ist, der nicht Abhandlungen und Reden beredter Männer gelesen oder gehört hat. Nicht einmal die Grammatik, aus der man die reine Sprache erlernt, hätten die Knaben nötig, wenn sie unter Menschen aufwachsen und leben könnten, die eine fehlerlose Sprache reden. Ohne auch nur erfahren zu haben, daß es etwas sprachlich Unrichtiges S. 165überhaupt gibt, würden sie alles Fehlerhafte, das sie aus dem Munde irgendeines Redenden hörten, infolge der gesunden Gewohnheit tadeln und selber meiden; so werden z. B. die Leute vom Lande von Städtern (wegen ihrer fehlerhaften Sprechweise) getadelt, auch wenn diese selbst von einer wissenschaftlichen Rhetorik nichts wissen.
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Die bedeutendsten römischen Schriften über Rhetorik sind Ciceros Buch „De oratore“, welches das Ideal eines Redners zeichnet, und „Brutus“, das die Geschichte der römischen Beredsamkeit gibt; ferner Quintilians „Institutio oratoria“ und die „libri quattuor ad Herennium“. ↩
Edition
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De doctrina Christiana
CAPUT III.-- Rhetoricae praecepta qua aetate, quave ratione disci possunt.
4. Sed quaecumque sunt de hac re observationes atque praecepta, quibus cum accedit in verbis plurimis ornamentisque verborum exercitatioris linguae solertissima consuetudo, fit illa quae facundia vel eloquentia nominatur, extra istas litteras nostras, seposito ad hoc congruo temporis spatio, apta et convenienti aetate discenda sunt eis qui hoc celeriter possunt. Nam et ipsos Romanae principes eloquentiae non piguit dicere quod hanc artem nisi quis cito possit, nunquam omnino possit perdiscere ( Cicero, de Oratore ). Quod utrum verum sit, quid opus est quaerere? Non enim, etiam si possint haec a tardioribus tandem aliquando perdisci, nos ea tanti pendimus, ut eis discendis jam maturas vel etiam graves hominum aetates velimus impendi. Satis est ut adolescentulorum ista sit cura; nec ipsorum omnium quos utilitati ecclesiasticae cupimus erudiri, sed eorum quos nondum magis urgens, et huic rei sine dubio praeponenda necessitas occupavit. Quoniam si acutum et fervens adsit ingenium, facilius adhaeret eloquentia legentibus et audientibus eloquentes, quam eloquentiae praecepta sectantibus. Nec desunt ecclesiasticae litterae, etiam praeter canonem in auctoritatis arce salubriter collocatum, quas legendo homo capax, etsi id non agat, sed tantummodo rebus quae ibi dicuntur intentus sit, etiam eloquio quo dicuntur, dum in his versatur, imbuitur; accedente vel maxime exercitatione sive scribendi, sive dictandi, postremo etiam dicendi, quae secundum pietatis ac fidei regulam sentit. Si autem tale desit ingenium, nec illa rhetorica praecepta capiuntur; nec, si magno labore inculcata quantulacumque ex parte capiantur, aliquid prosunt. Quandoquidem etiam ipsi qui ea didicerunt, et copiose ornateque dicunt, non omnes ut secundum ipsa dicant, possunt ea cogitare cum dicunt, si non de his disputant: imo vero vix ullos eorum esse existimo, qui utrumque possint, et dicere bene, et ad hoc faciendum praecepta illa dicendi cogitare cum dicunt. Cavendum est enim ne fugiant ex animo quae dicenda sunt, dum attenditur [P. 0091] ut arte dicantur. Et tamen in sermonibus atque dictionibus eloquentium, impleta reperiuntur praecepta eloquentiae, de quibus illi ut eloquerentur, vel cum eloquerentur, non cogitaverunt, sive illa didicissent, sive ne attigissent quidem. Implent quippe illa, quia eloquentes sunt; non adhibent, ut sint eloquentes.
5. Quapropter, cum ex infantibus loquentes non fiant, nisi locutiones discendo loquentium; cur eloquentes fieri non possint, nulla eloquendi arte tradita, sed elocutiones eloquentium legendo et audiendo, et quantum assequi conceditur, imitando? Quid, quod ita fieri ipsis quoque experimur exemplis? Nam sine praeceptis rhetoricis novimus plurimos eloquentiores plurimis qui illa didicerunt; sine lectis vero et auditis eloquentium disputationibus vel dictionibus, neminem. Nam neque ipsa arte grammatica, qua discitur locutionis integritas, indigerent pueri, si eis inter homines, qui integre loquerentur, crescere daretur et vivere. Nescientes quippe ulla nomina vitiorum, quidquid vitiosum cujusquam ore loquentis audirent, sana sua consuetudine reprehenderent et caverent; sicut rusticos urbani reprehendunt, etiam qui litteras nesciunt.