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Vier Bücher über die christliche Lehre (BKV)
3. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auflassung einer Schriftstelle können auch durch eine verschiedene Betonung des Textes entstehen
6. Was wir über zweideutige Abteilungen gesagt haben, das ist auch bei zweideutiger Aussprache zu S. 113beobachten. Auch solche Stellen müssen, wenn sie nicht bloß durch eine allzu große Sorglosigkeit der Vorleser gefälscht sind, nach den Regeln des Glaubens und nach dem ganzen Zusammenhang des Textes verbessert werden. Kann aber keines von diesen beiden Mitteln zur Verbesserung angewendet werden und bleibt die Betonung nicht weniger zweifelhaft, so trifft den Leser keine Schuld, wie er auch betonen mag. Wenn nicht unser Glaube, daß Gott nicht gegen seine Auserwählten Klage erheben und Christus sie nicht verdammen werde, uns abhielte, dann könnte z. B. die Stelle: „Wer wird eine Anklage erheben gegen die Auserwählten Gotte1?“ so ausgesprochen werden, daß auf diese Frage die Antwort folgte: „Gott, der sie rechtfertigt“, und wenn weiter gefragt wird: „Wer ist es, der sie verdammt?“, dann könnte geantwortet werden: „Christus Jesus, der gestorben ist.“ Das zu glauben wäre höchst unsinnig. Darum wird man die Stelle so betonen, daß auf die vorhergehende Wortfrage eine Satzfrage folgt. Zwischen Wort- und Satzfrage besteht nach der Angabe der Alten der Unterschied, daß auf die Wortfragen vielerlei Antworten möglich sind, auf die Satzfragen aber nur „nein“ oder „ja“. Darum wird man unsere Stelle so aussprechen, daß auf die Wortfrage: „Wer wird gegen die Auserwählten Gottes Anklage erheben?“ das folgende im Ton der Satzfrage gesprochen werde: „Etwa Gott, der sie rechtfertigt?“, worauf dann die stille Antwort: „nein“ erfolgt. Und wenn wir wiederum die Wortfrage stellen: „Wer ist es, der sie verdammt?“, so lassen wir wiederum die Satzfrage folgen: „Etwa Christus Jesus, der gestorben ist, ja noch mehr, der auch auferstanden ist, zur Rechten Gottes sitzet und für uns bittet?“ Auf alle diese Fragen wird stillschweigend geantwortet: „nein“. — Was aber jene Stelle betrifft, wo der Apostel sagt: „Was werden wir nun sagen, daß die Heiden, die nicht nach Gerechtigkeit strebten, doch Gerechtigkeit erlangten2“, so muß auf die Frage: „Was werden wir nun sagen?“ als Antwort erfolgen: „Daß die Heiden, welche S. 114nicht nach Gerechtigkeit strebten, doch Gerechtigkeit, erlangten“; denn sonst würde der folgende Text nicht, organisch zusammenhängen. — Ganz beliebig darf man endlich die Worte des Nathanael aussprechen: „Von Nazareth kann etwas Gutes kommen3“: entweder im Tone der Bejahung, so daß nur das Wort: „von Nazareth“ zur Frage gehört, oder die ganze Stelle im Tone einer zweifelhaften Frage. Wie man hier die Entscheidung treffen soll, sehe ich nicht ein; aber es ist keiner der beiden Sinne gegen den Glauben.
7. Es gibt auch bei Silben von zweifelhafter Betonung eine Zweideutigkeit, die sich gleichfalls auf die Aussprache bezieht. Ob in der Schriftstelle: „Nicht verborgen ist vor dir mein ‚os‘ (‚Gesicht‘ oder ‚Gebein‘), das du im Verborgenen gemacht hast4“, die Silbe „os“ kurz oder gedehnt auszusprechen ist, das ist dem Leser nicht klar. Nimmt er die Silbe kurz, dann ist es der Singular von „ossa“ (Gebein). Nimmt er sie aber lang, so ist es der Singular von „ora“ (Gesichter). Derlei Schwierigkeiten lassen sich durch einen Einblick in die Ursprache lösen: Denn im Griechischen steht nicht „στόμα“ (Gesicht), sondern „ὀστέον“ (Gebein). Sehr häufig ist darum zur Bezeichnung der Sachen die Volkssprache zweckdienlicher als die reine Schriftsprache. Ich für meine Person würde darum trotz des Barbarismus lieber sagen: „Nicht verborgen ist vor dir mein ‚ossum‘“, als daß ich im Interesse eines besseren Lateins weniger klar wäre. Manchmal aber wird die zweifelhafte Betonung einer Silbe durch ein nahestehendes Wort des nämlichen Satzes richtig gestellt. So ist es z. B. der Fall bei folgender Stelle des Apostels (Paulus): „Quae praedico vobis, sicut praedixi … Das sage ich euch, was ich euch ja früher schon gesagt habe: Wer solches tut, der wird das Reich Gottes nicht erben5.“ Hätte er nur gesagt: „quae praedico vobis“ und nicht gleich hinzugefügt „sicut praedixi“, so bliebe S. 115nichts übrig als sich an die Handschrift der Ursprache zu wenden, um zu erkennen, ob in dem angegebenen Wort „praedico“ die mittlere Silbe gedehnt oder kurz auszusprechen sei. Jetzt aber ist es klar, daß sie gedehnt werden muß; denn Paulus sagt nicht „sicut praedicavi“, sondern „sicut praedixi“.
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De doctrina Christiana
CAPUT III.-- Qua ratione expediatur ambiguitas ex pronuntiatione. Percontatio et interrogatio quo differant.
6. Quaecumque autem de ambiguis distinctionibus diximus, eadem observanda sunt et in ambiguis pronuntiationibus. Nam et ipsae nisi lectoris nimia vitientur incuria, aut regulis fidei corriguntur, aut praecedentis vel consequentis contextione sermonis; aut si neutrum horum adhibetur ad correctionem, nihilominus dubiae remanebunt, ut quolibet modo lector pronuntiaverit, non sit in culpa. Nisi enim fides revocet, qua credimus Deum non accusaturum adversus electos suos, et Christum non condemnaturum electos suos, potest illud sic pronuntiari, Quis accusabit adversus electos Dei? ut hanc interrogationem quasi responsio subsequatur, Deus qui justificat. Et iterum interrogetur, Quis est qui condemnat? et respondeatur, Christus Jesus qui mortuus est. Quod credere quia dementissimum est, ita pronuntiabitur, ut praecedat percontatio, sequatur interrogatio. Inter percontationem autem et interrogationem hoc veteres interesse dixerunt, quod ad percontationem multa responderi possunt; ad interrogationem vero, aut Non, aut Etiam. Pronuntiabitur ergo ita, ut post percontationem qua dicimus, Quis accusabit adversus electos Dei? illud quod sequitur sono interrogantis enuntietur, Deus qui justificat? ut tacite respondeatur, Non: et item percontemur, Quis est qui condemnat? rursusque interrogemus, Christus Jesus qui mortuus est, magis autem qui resurrexit, qui est in dextera Dei, qui et interpellat pro nobis 1? ut ubique tacite respondeatur, Non. At vero illo loco ubi ait, Quid ergo dicemus? Quia gentes quae non sectabantur justitiam, apprehenderunt justitiam 2; nisi post percontationem qua dictum est, Quid ergo dicemus? responsio subjiciatur, Quia gentes quae non sectabantur justitiam, apprehenderunt justitiam, textus consequens non cohaerebit. Qualibet autem voce pronuntietur illud quod Nathanael dixit, A Nazareth potest aliquid boni esse 3, sive affirmantis, ut illud solum ad interrogationem pertineat quod ait, A Nazareth? sive totum cum dubitatione interrogantis; non video quomodo discernatur: uterque autem sensus [P. 0068] fidem non impedit.
7. Est etiam ambiguitas in sono dubio syllabarum, et haec utique ad pronuntiationem pertinens. Nam quod scriptum est, Non est absconditum a te os meum, quod fecisti in abscondito 4, non elucet legenti utrum correpta littera os pronuntiet, an producta. Si enim corripiat, ab eo quod sunt ossa; si autem producat, ab eo quod sunt ora, intelligitur numerus singularis. Sed talia linguae praecedentis inspectione dijudicantur: nam in Graeco non στόμα, sed ὀστέον positum est. Unde plerumque loquendi consuetudo vulgaris utilior est significandis rebus, quam integritas litterata. Mallem quippe cum barbarismo dici, Non est absconditum a te ossum meum, quam ut ideo esset minus apertum, quia magis latinum est. Sed aliquando dubius syllabae sonus etiam vicino verbo ad eamdem sententiam pertinente dijudicatur: sicut est illud Apostoli, Quae praedico vobis, sicut praedixi, quoniam qui talia agunt, regnum Dei non possidebunt 5. Si tantummodo dixisset, Quae praedico vobis, neque subjunxisset, sicut praedixi, nonnisi ad codicem praecedentis linguae recurrendum esset, ut cognosceremus utrum in eo quod dixit, praedico, producenda an corripienda esset media syllaba: nunc autem manifestum est producendam esse; non enim ait, Sicut praedicavi, sed sicut praedixi.