24. Kapitel : Niemand haßt sein Fleisch, nicht einmal diejenigen, die es züchtigen
24. Niemand also haßt sich selbst: über diesen Satz hat es noch mit keiner Sekte irgendeinen Streit gegeben. Aber auch seinen Leib haßt niemand; denn wahr ist, was der Apostel sagt: „Niemals hat einer sein eigenes Fleisch gehaßt1.“ Und wenn auch manche Leute sagen, sie wollten lieber ohne Leib sein, so sind sie in einer argen Täuschung befangen: denn nicht ihr Leib ist es, den sie hassen, sondern nur seine verderbten Neigungen und seine erdrückende Erdenschwere. Ihr Wunsch geht also nicht dahin, überhaupt keinen Leib zu haben, sondern sie möchten einen unverdorbenen, blitzesschnellen Leib besitzen. Aber einen derartig ausgestatteten Leib halten sie schon gar nicht mehr für einen Leib, weil sie sich etwas Solches unter der Seele vorstellen. Wenn sodann solche Leute ihren Leib durch Enthaltsamkeit und durch Mühen gleichsam zu verfolgen scheinen, so haben jene, die sich in rechter Weise abtöten, durchaus nicht die Absicht, überhaupt keinen Leib mehr zu haben, sondern sie wollen ihn nur unter das Joch bringen und für heilsnotwendige Werke in Bereitschaft halten. Denn all die Leidenschaften, die den Leib mißbrauchen, das heißt die schlimmen Gewohnheiten und die Neigungen der Seele zu niedrigen S. 32Genüssen, wollen sie durch einen harten Kriegsdienst2 ausrotten. Damit töten sie sich ja nicht selbst, sondern tragen nur Sorge für ihre Gesundung.
25. Wer diese Abtötung aber auf verkehrte Weise betreibt, der bekriegt allerdings seinen Leib, als wäre er sein natürlicher Feind. Solche Leute verstehen falsch, wenn sie lesen: „Das Fleisch gelüstet gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; denn diese sind einander entgegen3.“ Diese Worte wurden nämlich wegen der unbezähmten Gewohnheiten des Fleisches gesprochen; gegen dieses Fleisch gelüstet es den Geist, nicht töten will er den Leib; nur seine Begierlichkeit, das heißt seine schlechten Gewohnheiten, will er bändigen und ihn unter das Joch des Geistes bringen, so wie es die naturgemäße Ordnung auch verlangt. Denn auch nach der Auferstehung wird es so sein, daß der Leib in höchster Ruhe dem Geiste völlig unterworfen ist und so auf ewig blüht; darum soll man schon in diesem Leben darnach trachten, daß die Gewohnheiten des Fleisches sich verbessern und nicht durch ungeordnete Regungen dem Geiste widerstreiten. Bis dahin gelüstet das Fleisch wider den Geist und der Geist wider das Fleisch. Es widersteht jedoch der Geist (dem Fleisch) nicht aus Haß, sondern um seiner Oberherrschaft (über das Fleisch) willen, weil er den Gegenstand seiner Liebe (den Leib) dem Bessern untergeordnet wissen will. Aber auch das Fleisch widerstrebt (dem Geist) nicht aus Haß, sondern wegen der Macht der Gewohnheit, die auch durch die natürliche Vererbung von den Eltern her alt und hart geworden ist. Das also beabsichtigt der Geist bei der Bändigung des Fleisches: die verkehrten, mit der schlechten Gewohnheit gewissermaßen vertraglich bestehenden Bestimmungen aufzulösen und auf Grund einer guten Gewohnheit Frieden zu schließen. — Aber nicht einmal solche Leute, die durch eine falsche Ansicht irregeleitet ihren Leib verabscheuen, wären bereit, selbst wenn es ganz schmerzlos S. 33geschehen könnte, auch nur ein Auge zu verlieren, auch wenn in dem andern Auge noch so viel Sehkraft zurückbliebe, als vorher in beiden Augen war; nur ein mit einem größeren Vorteil verbundener Anlaß könnte jemand zu einer solchen Handlung drängen. Durch diese und andere Beweise dieser Art kann man jenen, die ohne hartnäckigen Starrsinn nach Wahrheit suchen, zeigen, wie unumstößlich die Behauptung des Apostels ist: „Niemals hat einer sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern“, so fügt Paulus hinzu, „er nährt und pflegt es wie Christus seine Kirche4.“