8. Kapitel: Der Kanon der Heiligen Schrift
12. Wir wollen unsere Betrachtung jedoch wieder zur dritten Stufe zurücklenken und darüber auseinandersetzen und ausführen, was uns der Herr eingeben wird. Der eifrigste Schriftforscher wird also der sein, der sie zu allererst einmal ganz gelesen hat und sie, wenn auch nicht gerade nach ihrem (vollen) Sinn, so doch dem Wortlaut nach kennt; dies gilt wenigstens von den sogenannten kanonischen Schriften. Denn all die anderen (nichtkanonischen) Schriften wird er mit geringerer Gefahr lesen, wenn er mit dem wahren Glauben ausgerüstet ist. Sie werden dann den schwachen Geist nicht für sich einnehmen, ihn nicht durch gefährliche Lügen und Träumereien narren und so ein Vorurteil gegen ein gesundes Verständnis verursachen. Bezüglich der kanonischen Geltung der Schriften folge er dem S. 58Ansehen der großen Mehrzahl der katholischen Kirchen; unter diesen Kirchen sollen sich wenigstens jene befinden, die gewürdigt wurden, Sitze von Aposteln zu sein und von ihnen Briefe zu empfangen. Er wird also bezüglich der kanonischen Schriften den Grundsatz befolgen, daß er die von allen katholischen Kirchen angenommenen Schriften jenen vorzieht, die einige Kirchen nicht annehmen. Was nun die nicht von allen Kirchen angenommenen Schriften anbelangt, so wird er jenen Schriften, welche die an Zahl und Ansehen überwiegenden Kirchen anerkennen, den Vorzug vor jenen Schriften geben, die nur weniger zahlreiche und weniger angesehene Kirchen als echt annehmen. Findet man aber, daß einige Schriften nur bei einer größeren Zahl von Kirchen, andere Schriften wieder nur bei den bedeutenderen Kirchen in Geltung sind, ein Fall, der wohl nicht leicht vorkommt, so sollen sie nach meiner Ansicht gleiches Ansehen haben.
13. Der ganze Kanon der heiligen Schriften nun, mit dem sich jene Betrachtung befassen muß, enthält folgende Bücher: die fünf Bücher Moses, nämlich das Buch Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium, ein Buch Jesu Nave1, ein Buch der Richter, ein Büchlein, genannt Ruth, das eher zum Anfang der Bücher der Könige zu gehören scheint, sodann vier Bücher der Könige und zwei Bücher Paralipomena; diese letzteren schließen sich nicht an die Bücher der Könige an, sondern gehen ihnen gleichsam im gleichen Schritt zur Seite. Das sind die Geschichtsbücher, welche die Tatsachen nach der Ordnung der Zeit und der Reihenfolge nach erzählen. Einige Bücher gibt es auch, die einer verschiedenen Ordnung angehören und sich weder jener Reihenfolge anschließen noch auch untereinander zusammenhängen, wie das Buch Job, Tobias, Esther, Judith, die zwei Bücher der Makkabäer und die zwei Bücher Esdras; es scheint, als ob sie eher auf die bis zum Schluß der Bücher der Könige und der Paralipomena geordnete Geschichte folgten. Daran reihen sich die Propheten: darunter befindet sich von David S. 59ein Buch der Psalmen und von Salomon drei Bücher: nämlich das Buch der Sprichwörter, das Hohe Lied und der Prediger. Die zwei anderen Bücher nämlich, von denen das eine den Titel „Weisheit“ und das andere den Titel „Ecclesiasticus“ führt, werden nur wegen einer gewissen Ähnlichkeit dem Salomon zugeschrieben; in Wirklichkeit hat sie nämlich nach einer sehr bestimmten Überlieferung Jesus Sirach verfaßt2. Nachdem sie aber einmal der Aufnahme unter die kanonischen Bücher gewürdigt wurden, müssen sie unter die prophetischen Bücher gezählt werden. Die übrigen Bücher sind die Schriften derjenigen Männer, die im eigentlichen Sinn Propheten heißen. Die einzelnen Bücher von zwölf Propheten werden, weil man sie nie trennt, immer zusammengeschrieben und als ein Buch betrachtet. Die Namen dieser Propheten sind folgende: Osee, Joel, Amos, Abdias, Jonas, Michaeas, Nahum, Habakuk, Sophonias, Aggaeus, Zacharias, Malachias. Von vier Propheten stammen größere Bücher, nämlich von Isaias, Jeremias, Daniel und Ezechiel. Mit diesen vierundvierzig Büchern schließt der geltende Kanon des Alten Testamentes. — Zum Kanon des Neuen Testamentes gehören die vier Bücher Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, die vierzehn Briefe des Apostels Paulus, nämlich einer an die Römer, zwei an die Korinther, einer an die Galater, einer an die Epheser, einer an die Philipper, zwei an die Thessalonicher, einer an die Kolosser, zwei an Timotheus, einer an Titus, einer an Philemon und einer an die Hebräer, ferner zwei Briefe des Petrus, drei des Johannes, einer des Judas und einer des Jakobus, schließlich noch ein Buch der Apostelgeschichte und ein Buch von der Apokalypse des hl. Johannes.
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Gewöhnlich genannt das Buch Josue. ↩
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II. Retract. 4, 2 kommt der hl. Augustinus auf diese Stelle zu sprechen: Was ich im zweiten Buche über den Verfasser des Buches, das mehrere „Die Weisheit Salomons“ nennen, gesagt habe daß nämlich auch dieses Buch wie das Buch Ecclesiasticus Jesus Sirach geschrieben hat, steht, wie ich später lernte, nicht so sicher fest, wie es von mir behauptet wurde. Ich erfuhr, es sei überhaupt wahrscheinlich, daß er nicht der Verfasser dieses Buches sei. ↩