1. Kap. Hoher Wert der Ehrbarkeit vor der Welt und noch mehr in der Kirche Gottes. Ein Edikt des Bischofs der Bischöfe hat dagegen verstoßen. Tertullian ist deshalb aus der Gemeinschaft der Psychiker ausgetreten, was man nicht tadeln darf. Die laxe Praxis der Psychiker in Bezug auf die zweite Ehe führt notwendig zu sündlicher Nachsicht gegen Hurer und Ehebrecher.
Die Ehrbarkeit1, diese Blüte der Moralität, dieser Ehrenschmuck des Leibes, diese Zierde beider Geschlechter, welche das Geblüt vor Verderbnis bewahrt und Zweifel über die Abstammung fernhält2, dieses Fundament der Heiligkeit, dieses allgemein anerkannte Zeichen einer guten Gesinnung -- obwohl sie selten ist, schwer zur Vollkommenheit gedeiht und kaum jemals S. 378 Beständigkeit hat, so wird sie sich doch in gewissem Grade auch in der Welt finden, wofern die Natur den Grund dazu legt, die Erziehung dazu anleitet und die sittliche Strenge dazu hintreibt. Denn alles geistige Gute kommt entweder von der Natur oder durch Unterricht oder durch Zwang. Allein, wie es denn das Kennzeichen der letzten Zeiten ist, das Böse gewinnt mehr und mehr die Oberhand, und das Gute darf bereits gar nicht einmal mehr von Natur entstehen, -- so sind schon die Wurzeln verdorben -- und nicht mehr durch Unterricht befördert -- so verwahrlost sind die Studien -- und nicht mehr durch Zwang erwirkt werden -- so machtlos ist das Rechtswesen. So ist es denn auch mit der Tugend, worüber wir jetzt zu handeln beginnen, bereits so weit gekommen, daß man nicht mehr die Losschälung von den Wollüsten, sondern schon das bloße Maßhalten darin für Züchtigkeit hält, und bereits den für keusch genug hält, der nicht allzu unkeusch gewesen ist. Doch überlassen wir mit der Welt selbst auch ihre Ehrbarkeit sich selber, mit ihrer Anlage, wenn sie der Natur, mit ihrer Strebsamkeit, wenn sie dem Unterricht, mit ihrer Dienstbarkeit, wenn sie dem Zwang ihr Dasein verdankte. Freilich, sie würde noch unglücklicher sein, wenn sie Bestand hätte; denn sie ist ohne Früchte, da sie nicht bei Gott ihren Wert sucht. Ich will lieber gar kein Gut als ein eitles. Was nützt es, das zu sein, was zu sein doch nichts nützt?
Mit dem Bestände unserer Güter geht es bereits auf die Neige; sogar die Grundlage der christlichen Ehrbarkeit wird erschüttert, die doch alles vom Himmel entnimmt, ihr Wesen aus dem Bad der Wiedergeburt, ihre Anleitungen aus den Urkunden des Evangeliums, ihre Strenge aus den Urteilen in beiden Testamenten, eine Strenge, die fester greift wegen der Furcht vor dem ewigen Feuer und dem Verlangen nach der ewigen Herrschaft. Hätte ich wohl zu ihrem Nachteil stillschweigen können?3 Ich höre nämlich, daß ein Edikt S. 379 veröffentlicht worden ist, und zwar eine Definitivsentenz, Der oberste Pontifex, das ist der Bischof der Bischöfe erklärt: „Ich vergebe auch die Sünden des Ehebruchs und der Hurerei denen, die Buße getan haben”4.
Unter dieses Edikt kann man nicht schreiben: Recht so, wohlgetan! Und wo wird diese Liberalität öffentlich bekannt gemacht? Vermutlich sofort in den Lasterhöhlen unter den Aushängeschildern der Bordelle! Dort muß diese Art Buße promulgiert werden, wo die Sünde selbst ihr Wesen treibt, dort sollte von diesem Nachlaß zu lesen sein, wo man mit der Hoffnung auf ihn eintritt. Doch nein! Es steht in der Kirche zu lesen, in der Kirche wird es proklamiert, und die Kirche ist doch eine Jungfrau, Fort mit einer solchen Ankündigung, fort von der Braut Christi! Sie, die da die wahre, die keusche, die heilige ist, darf nicht einmal dadurch befleckt werden, daß sie so etwas hören muß. Sie hat keine Leute, denen sie ein solches Versprechen geben könnte, und wenn sie welche haben sollte, so gibt sie es ihnen nicht. Denn selbst der irdische Tempel Gottes konnte vom Herrn wohl als eine Räuberhöhle bezeichnet werden, aber nicht als eine Höhle der Ehebrecher und Hurer.
Es wird also auch diese Schrift5 gegen die Psychiker gerichtet sein, wie auch gegen meine frühere Ansicht, die ich mit ihnen gemein hatte, weshalb sie mir S. 380 dieses um so mehr als Zeichen leichtfertiger Sinnesänderung vorwerfen können. Allein das Ausscheiden aus einer Gesellschaft berechtigt niemals von vornherein zum Schluß auf ein Vergehen, als ob es nicht leichter sei, mit mehreren zu irren, da doch die Wahrheit mit wenigen geliebt wird. Diese heilsame Leichtfertigkeit wird mir keine größere Schande bringen, als mir die schädliche Ruhm brachte. Ich schäme mich des abgelegten Irrtums nicht; ich freue mich vielmehr, davon freigeworden zu sein, da ich finde, daß ich nun besser und ehrbarer bin. Niemand schämt sich, wenn er einen Fortschritt gemacht hat. Auch die Wissenschaft in Christo hat ihre Altersstufen, ein Entwicklungsgang, den selbst der Apostel durchmachte. „Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind; da ich aber ein Mann geworden bin, habe ich, was des Kindes war, beiseite getan”6. Folglich hat er sich von seinen früheren Meinungen abgewendet und darum doch keinen Fehler Begangen, wenn er ein Eiferer wurde nicht mehr für die Traditionen der Väter, sondern für die christlichen, und sogar wünschte, daß die, welche die Beibehaltung der Beschneidung befürworteten, weggeschnitten würden7. Möchte dies doch auch mit denen geschehen, welche die echte und wahre Unversehrtheit des Fleisches abschwächen, und welche nicht etwa bloß die Oberfläche, sondern das innerste Wesen der Schamhaftigkeit selbst hinwegschneiden, indem sie den Ehebrechern und Hurern Vergebung verheißen, im Gegensatz zur sittlichen Grundlage des Christentums, für welche die Heidenwelt selbst ein so lautes Zeugnis ablegt, daß sie dieselbe bei unseren Frauen manchmal weniger durch Martern, als mit Befleckungen des Leibes zu bestrafen sucht, und ihnen das entreißen will, was sie höher stellen als ihr Leben8.
Allein dieser Ruhm ist bereits am Erlöschen, und zwar mit Schuld derer, welche solchen Makeln um so beharrlicher die Vergebung hätten verweigern müssen, S. 381 weil sie, um nicht dem Ehebruch und der Hurerei zu erliegen, so oft Ehen eingehen, als sie Lust haben, da es ja besser sei, „zu heiraten als Brunst zu leiden”9. Natürlich, der Enthaltsamkeit wegen ist die Unenthaltsamkeit notwendig, der Brand soll mit Feuer gelöscht werden! Warum also gewähren sie nachher nach geleisteter Buße noch Vergebung für Verbrechen, für welche sie das Heilmittel im voraus festgesetzt haben in dem Rechte wiederholter Eheschließung? Denn einerseits das Heilmittel im voraus festgesetzt haben, in dem die Verbrechen Nachsicht finden, und andererseits werden die Verbrechen bleiben, wenn die Heilmittel keinen Zweck mehr haben10. So treiben sie denn nach beiden Seiten hin ein Spiel mit der Vorsorglichkeit und mit der Sorglosigkeit dadurch, daß sie in ganz vergeblicher Weise Vorsorge treffen gegenüber solchen Verbrechen, die sie doch schonend behandeln11, und in höchst alberner Weise Schonung üben in Bezug auf solche, gegen die sie Vorsorge treffen, obwohl man doch keine Vorsorge zu treffen braucht da, wo man schont, oder nicht schonen sollte, wo man Vorsorge trifft. Ihre Vorbeugungsmaßregeln erwecken den Schein, als wollten sie nicht, daß das in Frage stehende Vergehen vorkomme, ihre Nachsicht aber den Schein, als wollten sie doch, daß es vorkomme, obwohl sie doch, wenn sie das Vorkommen verhüten wollen, keine Verzeihung gewähren dürfen, wenn sie aber verzeihen wollen, keine Vorsorge zu treffen brauchen. Man darf doch nicht Ehebruch und Hurerei zu den kleinen und gleichzeitig zu den größten Vergehen12 rechnen, so daß beides auf sie Anwendung finde, S. 382 sowohl die Sorgsamkeit, die Vorsorge trifft, als auch eine gewisse Unbesorgtheit13, die Verzeihung gewährt. Da aber beides Fehltritte sind, die auf dem Höhepunkt der Sündhaftigkeit stehen, so geht es nicht an, sie nachzulassen, als wären sie bloß kleine Vergehen, und zugleich sie zu verhüten, als wären sie die größten Vergehen.
Bei uns dagegen trifft man gegen sie, als gegen die größten und schlimmsten Fehltritte, schon in der Weise Vorsorge, daß man nicht erlaubt, nach Annahme des Glaubens an eine zweite Heirat zu denken, da sie sich von Ehebruch und Hurerei höchstens durch den Heirats- und Dotalvertrag unterscheidet, und darum schließen wir mit der größten Strenge die Digami, als welche dem Paraklet Unehre bereiten, aus, infolge der hohen Stufe unserer Sittenzucht. Genau dieselbe Türschranke14 setzen wir den Ehebrechern und Hurern; sie werden nur wirkungslose Tränen vergießen, durch die sie den Frieden nicht zu erlangen vermögen, und nichts weiter von der Kirche erreichen, als eine Bekanntmachung15 ihrer Schande.
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Der Übersetzung wurde die Ausgabe von Rauschen (Bonn 1915) zugrunde gelegt, da sie unter allen Ausgaben die beste ist. Es sei noch bemerkt, daß ich in den drei folgenden Schriften, besonders in de pudicitia, die Übersetzung an sehr vielen Stellen anders gestaltet habe, als sie vorlag. ↩
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Vgl dazu Apolog. c. 9 gegen Ende. ↩
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Während die meisten Ausgaben das allerdings schwer erträgliche „nenne” haben, wofür Gelenius „nuncne” liest, folgt Rauschen der von Junius vorgeschlagenen Lesart: Adversus hanc nunc, ne dissimulare potuissem, audio etiam edictum esse propositum etc. Dann wäre zu übersetzen: Gegen diese ist jetzt, wie ich höre, so daß ich nicht mehr schweigen konnte, ein Edikt erlassen worden. Vielleicht ist statt „nuncne” „numne” zu lesen. ↩
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Gangneius überlieferte moechiae et fornicationis funes dimitto, was man in den Text aufnehmen sollte, vgl. de virg. vel. 14 funes delictorum. ↩
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Erit igitur et hic adversus psychicos titulus; hic titulus ist nicht, wie Kellner deutete, „diese Bezeichnung”, nämlich die Kirche als Jungfrau; auch nicht, wie Rauschen erklärt, das genannte Edikt, insofern es ein Argument gegen die Psychiker ist, sondern „diese Schrift”. Ich zitiere nur de pudic. 20. Exstat enim et Barnabae titulus ad Hebraeos. Aus dem Satz ergibt sich, daß schon eine oder mehrere Schriften gegen die „Psychiker” geschrieben sind, leider ist nicht gesagt welche. ↩
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1 Kor. 13, 11. ↩
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Gal. 5, 12. ↩
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vgl. Apol. 60. ↩
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1 Kor. 7, 9. ↩
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Mit Unrecht wird die überlieferte Lesart: si remedia vacabunt von Rauschen beanstandet und durch „remedia praecavent” ersetzt. Zur Bedeutung von vacare = zwecklos, gegenstandslos, ohne Folgen, ohne Funktion sein vgl. Hoppe 140f. ↩
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quibus parcunt; unter „quibus” sind nicht „Leute” zu verstehen, sondern Sünden. Vgl. kurz nachher „tale aliquid”. Die schonende Behandlung bestand darin, daß sie nicht mit immerwährendem Ausschluß bestraft wurden. ↩
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Mit Recht hat Rauschen die Lesart: de modicis (nicht mediis) et de maximis angenommen; sie wird durch den folgenden Satz (indulgeri quasi modica und praecaveri quasi maxima) und sodann durch den sonstigen Sprachgebrauch bei T. gefordert. T. kennt keine delicta media. ↩
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securitas im Gegensatz zu sollicitudo bedeutet, daß man in Bezug auf andere, weniger schwere Sünden nicht so besorgt zu sein braucht, daß man sie mit immerwährendem Ausschluß bestraft Man braucht bei ihnen sich nicht so zu beunruhigen, nicht so scharf aufzutreten, da sie durch die Buße Vergebung finden. ↩
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limen limitis figimus ist dasselbe wie foris sistimus; vgl. de pudic. 3: adsistit pro foribus eius; de paen. 7. Collocavit in vestibulo paenitentiam secundam; die Worte sind nicht bloß metaphorisch, sondern lokal zu verstehen, Vgl. d'Alès, L'Édit de Calliste 409 ff. ↩
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D. h. die Montanisten hatten für diese Sünder zwar keine Verzeihung und Wiederaufnahme in die Kirche, ließen sie aber zu den öffentlichen Bußübungen zu; vgl. Kap. 3. ↩