28. Geistig ist das Gesetz des Moses aufzufassen; die fleischliche Auffassung führt zu verwerflichem Murren.
Wenn dann der Prophet weiter hinzufügt1: „Seid eingedenk des Gesetzes meines Dieners Moses, das ich ihm geboten habe auf Horeb für ganz Israel“, so ist das an dieser Stelle, wo soeben ein Blick eröffnet worden ist in die tiefe Kluft, die sich auftun wird zwischen den Beobachtern und den Verächtern des Gesetzes, ein passender Hinweis auf die Vorschriften und Rechtsforderungen des Gesetzes; zugleich eine Mahnung, das Gesetz geistig auffassen zu lernen und darin Christum zu finden, den Richter, der die Scheidung zwischen Guten und Bösen durchzuführen hat. Denn nicht ohne Grund hält Band 28, S. 1296Christus der Herr den Juden vor2: „Wenn ihr dem Moses glaubtet, würdet ihr auch mir glauben; denn von mir hat er geschrieben.“ Wahrlich nur bei fleischlicher Auffassung des Gesetzes und Mißkennung der bildlichen Beziehung seiner irdischen Verheißungen auf himmlische Dinge konnten die Juden in solches Murren ausbrechen und sich versteigen zu Äußerungen wie3: „Ein Tor, wer Gott dient! Was haben wir voraus dadurch, daß wir seine Gebote beobachteten und demütig wandelten vor dem Angesicht des allmächtigen Herrn? Und jetzt ist es an uns, die anders Denkenden selig zu preisen, und empor strecken sich alle, die Unrecht tun.“ Durch solche Vorwürfe ist der Prophet sozusagen genötigt worden, das Jüngste Gericht vorherzusagen, bei dem die Bösen nicht einmal einem falschen Scheine nach glücklich sind, sondern vor aller Augen im tiefsten Elend sich zeigen, während die Guten selbst nicht unter zeitlichem Unglück leiden, sondern eine offensichtliche und ewige Glückseligkeit genießen. Schon vorher hat der Prophet ähnliche Worte des Unmuts aus dem Munde der Juden angeführt4: „Jeder, der Böses tut, ist gut vor dem Herrn, und an solchen hat er sein Wohlgefallen.“ So weit verstieg sich das Murren gegen Gott, wie gesagt, dadurch, daß man das Gesetz des Moses fleischlich auffaßte. In diesem Sinne sagt auch der königliche Sänger im 72. Psalm5, seine Füße wären beinahe gestrauchelt und seine Schritte wären am Ausgleiten gewesen, zum Falle natürlich, aus Eifersucht über die Sünder angesichts ihres Friedens; ja er ruft aus: „Wie sollte Gott Kenntnis haben, und findet sich Wissen beim Allerhöchsten?“ und wiederum: „Also habe ich umsonst mein Herz gerecht gemacht und mit den Unschuldigen meine Hände gewaschen?“ Und endlich findet er den Ausweg aus der großen Schwierigkeit, die sich dadurch ergibt, daß die Guten allem Anschein nach übel daran sind und die Bösen gut: „Darin“, ruft er aus, „mühe ich mich so lange ab, bis ich eintrete in das Heiligtum Gottes und Band 28, S. 1297auf das Letzte hinschaue.“ Beim letzten Gericht nämlich wird es nicht so sein; vielmehr wird da bei dem offenbaren Elend der Ungerechten und der offenbaren Glückseligkeit der Gerechten etwas ganz anderes als gegenwärtig in die Erscheinung treten.