12. Kapitel. Verbindung von höherem und niederem Verstande im Menschen.
17. Jetzt wollen wir in betreff jenes Teiles des Verstandes, zu dem die Wissenschaft gehört, das heißt die Kenntnis der zeitlichen und wandelbaren Dinge, die für die Besorgung des Handels und Wandels in diesem Leben nötig ist, die begonnene Überlegung, soweit Gott dazu seine Hilfe schenkt, fortsetzen. Wie nämlich in jener bekannten Verbindung der beiden Menschen, die als S. 145 die ersten geschaffen wurden, nicht die Schlange vom verbotenen Baume aß, sondern nur zum Essen überredete, die Frau aber nicht allein aß, sondern ihrem Manne gab und sie zusammen aßen, wenngleich sie allein mit der Schlange sprach und allein von ihr verführt wurde,1 so ist auch in dem, was in einem einzigen Menschen sich begibt und auseinandergehalten werden kann, in der da sich findenden verborgenen und geheimen Verbindung die fleischliche oder, um es so auszudrücken, die sinnliche Seelenbewegung — man denkt ja an den Leibessinn, wenn man sie in Betracht zieht —, die uns und den Tieren gemeinsam ist, von dem der Weisheit dienenden Verstande zu sondern. Mit dem Leibessinn nimmt man ja Körperliches wahr, die ewigen und unwandelbaren geistigen Dinge hingegen sieht man mit dem der Weisheit dienenden Verstande ein. Dem der Wissenschaft dienenden Verstande ist aber das Streben nachbarlich verbunden, da ja um die körperlichen Dinge, die mit dem Leibessinn wahrgenommen werden, die sogenannten praktischen Wissenschaften in Überlegungen und Schlußfolgerungen sich mühen, um diese Kenntnisse, wenn es in guter Weise geschieht, auf das höchste Gut als Endziel hinzuordnen, um, wenn es in schlechter Weise geschieht, diese Dinge als solche Güter zu genießen, in denen man in falscher Glückseligkeit ausruht. Wenn also jener irdische oder fleischliche Sinn die Aufmerksamkeit des Geistes, der bei zeitlichen und körperlichen Dingen um seiner praktischen Aufgaben willen mit lebhaften Überlegungen verweilt, dazu verführt, diese Dinge zu genießen, das heißt sie als eine Art Sonder- und Eigengut zu werten und nicht als allgemeines und gemeinsames — derart ist eben das unwandelbare Gut —, dann spricht gleichsam die Schlange die Frau an. Dieser Verlockung zustimmen ist soviel wie von dem verbotenen Baume essen. Wenn sich diese Zustimmung auf das Ergötzen am Gedanken an jene Dinge S. 146 beschränkt, die Glieder aber durch die Autorität höherer Überlegungen so zurückgehalten werden, daß sie sich nicht als Werkzeuge der Ungerechtigkeit der Sünde anbieten,2 dann ist das, wie ich glaube, so zu verstehen, wie wenn nur die Frau allein die verbotene Speise gegessen hätte. Wenn aber bei der Zustimmung zum schlechten Gebrauch der Dinge, die durch den Leibessinn wahrgenommen werden, die Entscheidung für die Sünde so stark ist, daß sie sich, wenn die Möglichkeit hierzu besteht, im Leibe vollendet, dann ist das so zu verstehen, daß die Frau ihrem Manne von der verbotenen Speise gab, damit er zugleich mit ihr davon esse. Zu einer Entscheidung für die Sünde, und zwar sowohl für den süßen Gedanken an sie wie auch für die Ausführung im Werke kann es nämlich nur kommen, wenn auch die Aufmerksamkeit des Geistes, welcher die höchste Macht hat, die Glieder zum Werke hinzubewegen oder vom Werke abzuhalten, dem Schlechten nachgibt und dient.
18. Man darf freilich, wenn der Geist nur im Gedanken sich an Verbotenem ergötzt, sich aber nicht für seine Ausführung im Werke entscheidet, das jedoch, was sofort, als es die Seele berührte, hätte zurückgewiesen werden müssen, gerne festhält und übersinnt, nicht leugnen, daß das Sünde ist, aber es ist eine weit geringere, als wenn man sich entschlossen hätte, sie auch im Werke zu vollenden. Und deshalb muß man auch für solche Gedanken um Verzeihung bitten und an die Brust schlagen und sprechen: „Vergib uns unsere Schulden“,3 und tun, was folgt und im Gebete anzufügen ist: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldnern.“4 Nicht nämlich kann, wie bei den beiden ersten Menschen jedes nur für seine eigene Person verantwortlich war und daher, hätte allein die Frau von der verbotenen Frucht gegessen, auch nur sie von der Todesstrafe betroffen worden wäre, nicht also kann man so bei einem Menschen S. 147, wenn er sich an verbotenen Ergötzlichkeiten, von denen sich sein Denken sogleich hätte abwenden müssen, für sich allein gerne weidet, und wenn es nicht zum Entschlusse kommt, das Böse zu tun, sondern es nur in süßem Erinnern festgehalten wird, nicht kann man so sagen, daß da gleichsam nur die Frau ohne den Mann verurteilt wird: Ferne sei es, das zu glauben! Hier handelt es sich ja um eine einzige Person, um einen einzigen Menschen, und der ganze Mensch wird verdammt werden, wenn die Sünden, die ohne den Willen zur Ausführung, aber doch mit dem Willen, die Seele durch Derartiges zu ergötzen, allein durch das Denken begangen wurden, nicht durch die Gnade des Erlösers nachgelassen werden.
19. Diese Erörterung also, in der wir im Geiste eines jeden Menschen eine gewisse, im Bereiche des Verstandes sich vollziehende Verbindung von Beschauung und Werk suchten, da die Aufgaben zwischen die beiden aufgeteilt sind, in beiden jedoch die Einheit des Geistes gewahrt bleibt — gewahrt blieb hierbei die geschichtliche Wahrheit jenes Vorgangs, den die göttliche Autorität von den beiden ersten Menschen berichtet, von dem Manne nämlich und seiner Frau, von denen das ganze Menschengeschlecht abstammt —, diese Erörterung will nur angehört sein, damit sie zur Einsicht verhilft, daß der Apostel, wenn er nur den Mann Bild Gottes sein läßt, nicht auch die Frau, damit, obgleich es sich um das verschiedene Geschlecht zweier Menschen handelt, auf einen Sachverhalt sinnbildlich hinweisen wollte, der sich in einem einzigen Menschen finden läßt.