3. Kapitel. Manche Willensregungen sind allen Menschen gemeinsam.
6. Es ist in der Tat gewissermaßen der Zusammenklang einer und derselben lebendigen und den Verstand gebrauchenden Natur so groß, daß, während dem einen verborgen ist, was der andere will, doch einige Willensbewegungen aller auch den einzelnen bekannt sind, und während ein Mensch nicht weiß, was ein anderer Einzelner will, man bei manchen Dingen doch wissen kann, was alle wollen. So wird die witzige Höflichkeit jenes Schauspielers gerühmt, der im Theater versprach, er werde bei anderen Spielen sagen, was alle im Sinne hätten und wünschten, und als am bestimmten Tage eine auch die größten Erwartungen übertreffende riesige Menschenmenge zusammenströmte, während alles lauschte und schwieg, gesagt haben soll: Ihr wollt billig kaufen und teuer verkaufen. In diesem Worte des oberflächlichen Schauspielers fanden alle ihr eigenes Bewußtsein wieder und spendeten ihm, der eine Wahrheit S. 167 aussprach, die allen offen vor Augen lag und doch unvorhergesehen war, in erstaunlicher Weise Beifall. Warum anders aber hat das Versprechen des Schauspielers, er werde den Willen aller mitteilen, eine solche Erwartung hervorgerufen, als weil dem Menschen die Willensregungen anderer Menschen verborgen sind? Aber waren sie auch jenem verborgen? Sind sie überhaupt jemandem verborgen? Wenn nicht, aus welchem anderen Grund als deshalb, weil es manches gibt, was jedermann nicht unzutreffenderweise von sich her in anderen vermutet, indem die Fehler oder die Natur im Leiden und Planen zusammenstimmen. Aber etwas anderes ist es, seinen Willen zu sehen, etwas anderes, einen fremden, wenngleich in sicherstem Schluß, zu erschließen. Daß nämlich Rom gegründet wurde, halte ich unter den menschlichen Dingen für so sicher, wie daß Konstantinopel gegründet wurde, während ich Rom mit meinen eigenen Augen gesehen habe, von Konstantinopel hingegen nichts anderes weiß, als was ich anderen auf ihr Zeugnis hin glaube. Jener Schauspieler glaubte zwar, indem er entweder auf sich selbst schaute oder auch andere aus Erfahrung kannte, allen Menschen sei es gemeinsam, daß sie billig kaufen und teuer verkaufen wollen. Da es aber in Wirklichkeit ein Fehler ist, kann es jemand zu einer solchen Gerechtigkeit bringen, oder sich so sehr die Pest eines anderen, entgegengesetzten Fehlers zuziehen, daß er dem einen Fehler widersteht und ihn überwindet. Ich weiß nämlich selbst von einem Menschen, der, wenn ihm eine wohlfeile Handschrift zum Kauf angeboten wurde und er sah, daß der Verkäufer ihren Wert nicht kannte und daher eine zu geringe Summe forderte, den gerechten Preis, der viel höher war, dem Verkäufer auch wider dessen Erwarten bezahlte. Wie? Kann nicht auch umgekehrt jemand so sehr von Liederlichkeit besessen sein, daß er die Hinterlassenschaft seiner Eltern verschleudert und dafür teuer kauft, was die Lüste verbrauchen. Nicht ist, wie ich S. 168 glaube, solche Schwelgerei unglaublich. Wenn man solche Leute sucht, wird man sie finden; ja auch ungesucht begegnet man ihnen vielleicht, solchen, die mit noch größerer Liederlichkeit als mit der eines Schauspielers Vorführung und Vortrag eines Schauspielers noch Hohn sprechen, indem sie Ehebrüche um teures Geld erkaufen, Ländereien aber billig verkaufen. Wir wissen auch, daß, um Geschenke zu machen, manche Getreide teurer einkauften und an ihre Mitbürger billiger verkauften. Auch das, was der alte Dichter Ennius1 sagt: „Alle Sterblichen wünschen gelobt zu werden“, erschließt er jedenfalls von sich oder von denen aus, die er aus Erfahrung kennt, in anderen, und er scheint damit die Wünsche aller Menschen ausgesprochen zu haben. Wenn schließlich jener Schauspieler auch gesagt hätte: Gelobt werden wollt ihr alle, niemand will getadelt werden, dann schiene er in ähnlicher Weise ausgedrückt zu haben, was Wille aller ist. Es gibt jedoch solche, die ihre Fehler hassen und in dem, worin sie sich selbst mißfallen, auch von anderen nicht gelobt werden wollen, und dem Wohlwollen derer, die sie rügen, danken, wenn man sie tadelt, damit sie sich bessern. Wenn er indes gesagt hätte: Alle wollt ihr glücklich sein, elend wollt ihr nicht sein, dann hätte er etwas gesagt, was jeder in seinem Willen feststellen würde. Was immer nämlich einer sonst im Verborgenen wünscht, von diesem Willen, der allen und von allen Menschen hinreichend bekannt ist, geht niemand ab.
Über ihn vgl. M. Schanz, Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian. I 1. München 1907, S 109―129. Die zitierte Stelle (Ann. 551) s. bei Joh. Vahlen, Ennianae Poesis reliquiae. Leipzig 1854. Über die Verwendung der klassischen Literatur bei Augustinus schrieb am eingehendsten G. Combès, Saint Augustin et la culture classique. Paris 1927. Eine kurze Zusammenfassung bei M. Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik. Bd. II. München 1936, 1—24. ↩
