Erster Brief. An Eusebius.
S. 54Gestern besuchten mich mehrere Mönche. Wir redeten über dies und jenes. Da kamen wir im Verlauf der langen Unterredung auf das Büchlein zu sprechen, das ich über das Leben des heiligen Mannes Martinus herausgegeben habe. Ich hörte da zu meiner großen Befriedigung, daß es viele eifrige Leser finde. Bei dieser Gelegenheit wurde mir mitgeteilt, einer habe, vom bösen Geist gereizt, gefragt, warum Martinus, der doch Tote erweckt und von den Häusern die Feuersgefahr ferngehalten hat, vor einiger Zeit1 selbst vom Feuer ergriffen worden und in eine ganz bedenkliche Notlage gekommen sei. Dieser jämmerliche Wicht, mag er sein, wer er wolle: In seinen Worten erkennen wir die treulosen Äußerungen der Juden wieder, die dem Herrn, als sie ihn ans Kreuz gebracht hatten, höhnisch zuriefen: „Andern hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen“2 . Wahrhaft, jener Mensch, er sei, wer er wolle, wäre er damals zur Welt gekommen, er wäre sicherlich fähig gewesen, so wider den Herrn zu sprechen. Tatsächlich hätte ihm der Wille zu dieser Treulosigkeit nicht gefehlt, ihm3 , der jetzt bei ähnlicher Gelegenheit den S. 55Heiligen des Herrn durch sein Verhalten lästert. Was meinst du, wer immer du bist? Soll Martinus deshalb nicht mächtig, deshalb nicht heilig sein, weil er bei der Feuersbrunst in Gefahr kam? Glückseliger Mann, in allem den Aposteln gleich, auch bei diesen Lästerungen! Es wird ja überliefert, daß die Heiden auch von Paulus so dachten, als ihn eine Schlange gebissen hatte. Sie sprachen: „Dieser Mensch muß ein Mörder sein. Er ist zwar dem Meer glücklich entronnen, aber das Schicksal läßt ihn nicht am Leben“4 . Allein Paulus schleuderte die Schlange ins Feuer und erlitt keinen Schaden. Jene meinten, er werde sofort zusammenbrechen, sofort sterben; da sie aber sahen, daß ihm nichts Schlimmes widerfahre, schlug ihre Gesinnung um, und sie sprachen: er ist ein Gott. Du Unglückseligster unter allen Menschen hättest an ihrem Beispiel nun doch deine Tücke erkennen sollen. Du hast daran Ärgernis genommen, daß die Flamme Martinus zu ergreifen schien; da er aber inmitten der lodernden Feuerflamme unversehrt blieb, so mußtest du das seiner Tugend und Wunderkraft zuschreiben. Erkenne, Elender, was dir verborgen ist, daß fast alle Heiligen sich ruhmwürdiger erwiesen durch die Wunderkraft, die sie in Gefahren offenbarten. Den glaubensstarken Petrus sah ich ganz gegen die Natur übers Meer wandeln und von den schwankenden Wogen getragen5 . Allein ich glaube, daß ihm der Völkerapostel in nichts nachsteht; die Flut hatte ihn verschlungen, aber nach drei Tagen und drei Nächten6 tauchte er wieder auf, und die Tiefe gab ihn wieder zurück. Ich bin im Zweifel darüber, ob es nicht fast mehr war, in der Tiefe des Meeres am Leben zu bleiben, als über der Meerestiefe dahin zu schreiten.
S. 56Mich dünkt, du Tor habest entweder das wohl nicht gelesen oder, wenn es vorgelesen wurde, überhört. Nicht ohne göttliche Eingebung hat der heilige Evangelist solch ein Beispiel in die Heilige Schrift aufgenommen. Der Mensch soll sich nämlich dadurch belehren lassen, daß Schiffbruch und Schlangenbiß7 und was sonst noch derlei Heimsuchungen sind, von denen der Apostel spricht8 , wenn er sich der Blöße, des Hungers und der Gefahren von Räubern rühmt, daß all dies Gemeingut der Heiligen ist, die leiden müssen. Aber gerade dadurch, daß sie diese Leiden ertrugen und überwanden, haben die Gerechten immer besondere Tugendgröße bewiesen. Denn in ungebrochener Kraft trotzten sie allen Stürmen, und ihr Sieg war daher um so heldenhafter, je schwerer ihr Kampf gewesen war. Darum ist für Martinus ehrenvoller Ruhm, was man bei ihm als Schwäche deuten will; er schwebte ja in der größten Gefahr und blieb doch Sieger9 .
Überhaupt soll es niemand wundernehmen, daß ich in meiner Lebensbeschreibung nicht davon geredet habe. Ich habe ja darin offen gesagt10 , daß ich nicht alle seine Wundertaten anführen wolle. Hätte ich alles mitteilen wollen, dann hätte ich den Lesern ein ungeheuer dickes Buch vorlegen müssen. Denn seine Taten sind nicht so geringfügig, daß man alle hätte in kurze Worte fassen können. Doch ich will das, worauf jetzt die Rede gekommen, nicht verheimlichen. Ich will vielmehr alles, so wie es sich zugetragen hat, berichten. Es soll nicht den Anschein haben, als hätte ich absichtlich mit etwas hinter dem Berge gehalten, was man als Tadel gegen den heiligen Mann vorbringen konnte.
Die Bischöfe haben die Gewohnheit, alljährlich ihre Kirchen zu besuchen. So kam denn auch Martinus eines Winters in eine Pfarrei. Die Kleriker richteten ihm in der Sakristei der Kirche eine Herberge her. Sie zündeten auf dem rauhen, dünnen Estrich ein starkes Feuer S. 57an und bereiteten ihm mit reichlich Stroh eine Lagerstätte. Als sich Martinus zum Schlafen niederlegte, war ihm die ungewohnt weiche Lagerstätte mit ihrer verführerischen Behaglichkeit zuwider. Er war ja gewohnt, auf bloßem Boden, nur auf einer härenen Decke, zu schlafen. Er warf daher alles Stroh beiseite, als wäre ihm ein Unrecht angetan. Dabei kam ein Teil von dem weggeworfenen Stroh in die Nähe des kleinen Ofens. Der Bischof selbst schlief dann ein auf bloßem Boden, wie er es gewohnt war. Die Müdigkeit von der Reise hatte ihn übermannt. Ungefähr um Mitternacht hatte sich das Feuer durch den obengenannten Estrich durchgefressen und ergriff die dürre Spreu. Martinus fuhr aus dem Schlafe auf. Langsamer, als er es hätte sollen, nahm er zum Gebet seine Zuflucht, verwirrt durch den ungewohnten Anblick und die drohende Gefahr, ganz besonders aber, wie er sagte, durch die tückische List des Teufels, Er wollte nämlich hinausstürzen; heftig zerrte er lang an dem Riegel, den er der Türe vorgeschoben hatte. Rings um sich her fühlte er eine entsetzliche Gluthitze, das Feuer versengte sein Gewand. Endlich kehrte ihm die ruhige Überlegung wieder; er erkannte, daß er sein Heil nicht in der Flucht, sondern nur bei Gott finden könne; er ergriff den Schild des gläubigen Gebets, überließ sich ganz dem Herrn und warf sich inmitten der Flammen zu Boden. Wunderbarerweise wichen die Flammen zurück, und Martinus oblag dem Gebet mitten im Flammenkreis unversehrt. Die Mönche, die draußen standen, hörten das Prasseln und Knistern des Feuers; sie sprengten die verriegelte Türe, rissen das Feuer auseinander und zogen Martinus mitten aus den Flammen; sie waren der Meinung, er sei bei dem so lang andauernden Brande schon ganz verkohlt. Er selbst erzählte mir, was Gott mir bezeugen kann, und bekannte unter Seufzen, deshalb sei er, aus dem Schlaf aufgeschreckt, nicht auf den Gedanken gekommen, durch glaubensvolles Gebet der Gefahr zu begegnen, weil ihn hierin der Teufel in seiner listigen Schlauheit hintergangen habe; so lange habe das Feuer um ihn gewütet, als er es in seiner Verwirrung versuchte, die Türe zu erbrechen. Sobald er aber nach dem S. 58Banner des Kreuzes und den Waffen des Gebetes gegriffen habe, seien die Flammen in der Mitte auseinandergewichen. Was er vorher als sengende Glut empfunden, sei ihm jetzt wie kühlender Tau vorgekommen. Daraus möge jeder Leser entnehmen: jene Gefahr war für Martinus wohl eine Versuchung gewesen, wurde aber für ihn zum Sieg.
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„Nuper“ hat oft eine zeitlich weit umfassende Bedeutung, vgl. Cicero, De nat. deor. II, 50: „nuper id est paucis ante saeculis“; Cicero, Pro Sulla 32 [nuper: vor drei Jahren]. Also folgt aus diesem Worte nicht, daß der Brief gleich nach dem Tod des Heiligen geschrieben sei. ↩
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Matth. 27, 42. ↩
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Hier ist im gewöhnlichen Text eine Lücke, die durch die Lesart der Hds. von Dublin ausgefüllt wird: „si illis temporibus natus esset, utique in dominum hanc vocem emittere potuisset. Profecto nequaquam ei voluntas ad porfidiam de-fuisset, qui simili . .“ vgl. Le moyen âge 19 [1906] 207. ↩
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Apg. 28,4. ↩
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Matth. 14, 29 f. ↩
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Nach 2 Kor. 11, 25 war Paulus nur einen Tag und eine Nacht in der Meerestiefe. Vielleicht ist im Text ein kleiner Abschnitt ausgefallen, der von Jonas handelte [Matth. 12, 40]. ↩
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Interpunktion nach Fürtner 1. o. 35 f. ↩
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2 Kor. 11, 26 f. ↩
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Vgl. Jak. 1, 12. ↩
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Vita 1, 7; 26, 2. ↩