Einleitung
Homilie über die Auferweckung des Lazarus
S. 1 aus dem Armenischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von
Dr. Simon Weber, Domkapitular zu Freiburg i. B.
S. 3 Mambre Verzanogh heißt bei den armenischen Historikern übereinstimmend ein jüngerer Bruder des Schriftstellers und Geschichtschreibers Moses von Choren.
Der Beiname Verzanogh bedeutet „Leser“ und weist offenbar darauf hin, daß das Leben des Mannes im wesentlichen der Gelehrsamkeit gewidmet war, und daß er dabei vorzüglich der Erforschung der vorhandenen Literatur sich hingab. Man wird die Vermutung erlauben, daß Mambre die Arbeit des Lesens nicht um ihrer selbst willen getan hat, sondern im Dienste wissenschaftlichen Unterrichts oder kirchlich erbaulicher Lehrtätigkeit, mag er nun als Lehrer, als Kanzelredner oder als Schriftsteller aufgetreten sein.
Die Geschichtschreiber stimmen darin überein, daß Mambre in der gelehrten Bewegung des alten Armeniens, als Sahak und Mesrop Schüler aussandten, welche die Schätze griechischer und syrischer Weisheit für die Heimat erwerben sollten, eine Rolle gespielt hat. Da sie von seiner Rückkehr nach Armenien schreiben, ist er auch zu jenen Schülern zu zählen, welche ins Ausland geschickt worden waren. Sakias Somalian nennt Athen und Konstantinopel als Stätte seiner Studien, Karekin fügt Alexandria bei. Indes wird weder bei Koriun, noch bei Lazar von Pharp oder Moses von Choren Mambre bei den Reiseberichten eigens genannt.
Daß dieser Bruder des Moses auch Schriftsteller gewesen ist, berichten Kirakos von Gandzak und Thomas Artsruni. Der erstere schreibt ihm (Gesch. Armeniens, Venedig 1865, S. 17) eine Rede über die Ankunft Jesu in Jerusalem bei. Letzterer macht ihn zum Geschichtschreiber, dessen Fragmente ihm als Quelle dienten, gibt aber über den Gegenstand und Umfang seiner Geschichtschreibung keine näheren Nachrichten. (Gesch. der Artsrunier I, 6, Petersburg 1887, S. 44).
S. 4 Die geschichtlichen Produkte, von denen Thomas schreibt, sind heute verloren. Anders steht es mit den rednerischen Erzeugnissen seiner Feder. An solchen finden sich im überlieferten Schrifttum der Armenier eine Rede über die Auferweckung des Lazarus und zwei Reden über die Ankunft Jesu in Jerusalem. Ein Verzeichnis in Etschmiadzin (Karekin S. 390) nennt auch eine Rede auf die Geburt des Erlösers. Eine Handschrift mit der Rede über die
Auferweckung des Lazarus spricht auch von einer Erklärung des Johannesevangeliums, die aber bisher unbekannt ist.
Die Auferweckung des Lazarus ist der Gegenstand mehrerer armenischer Homilien aus älterer Zeit, einer, die dem Sererianus, einer, die dem Hippolytus, einer, die Theophilus, einer vierten, die Chrysostomus zugeschrieben wird und endlich einer ohne Namen überlieferten. Diese Mehrheit von Reden über denselben Stoff brachte es mit sich, daß die Zueignung derselben an Autoren vielfach irrig geschehen ist. So wird die Mambre zugeschriebene Homilie in zwei Handschriften dem heiligen Johannes Chrysostomus zugeeignet. Da das griechische Original mangelt, ist diese Zueignung für irrig zu halten. Eine Handschrift aus dem Jahre 1205 schreibt sie Elische dem Geschichtschreiber zu. Zwei Handschriften, von denen eine aus dem Jahre 1637 und eine aus dem Jahr 1218 stammt, tragen den Namen Mambres, während zwei weitere Handschriften sie ohne Angabe des Namens überliefern. Endlich existiert eine Rede auf die Auferweckung des Lazarus von Johannes Erzingazi, aus Worten der Väter zusammengestellt, welche einen großen Teil der Mambre zugeschriebenen Homilie aufgenommen hat.
Bei dem geringen Umfang der von Mambre überkommenen Werke ist es schwer, kritisch festzustellen, ob die Tradition mit ihrer Zueignung im Rechte ist. Die zwei Homilien über die Ankunft Christi in Jerusalem stechen erheblich und zu ihren Ungunsten von der über die Auferstehung des Lazarus ab. Doch hindert das nicht, an der Echtheit der letzteren Rede festzuhalten. Das Zeugnis des Kirakos berechtigt jedenfalls, eine Rede S. 5 des Mambre über diesen Gegenstand anzunehmen und jene als solche zu betrachten, welche in den Handschriften des Autors Namen trägt, und wo sie ihn nicht trägt, fälschlich anderen wie Chrysostomus und Elische zugewiesen wird. Letztere Zueignung ist vereinzelt und nicht ohne Gegengrund (s. Vorwort der Ausgabe Venedig 1894). Die Überlieferung, die Mambre als Schriftsteller betrachtet, muß ihren Grund haben. Je geringer die Zahl der Werke des Autors ist, desto unwahrscheinlicher ist es, daß ihm eine bestimmte Rede ohne Grund zugeeignet worden wäre.
Sehen wir die Homilie selbst auf Kriterien an, so können wir bei der Sachlage fast nur auf Kriterien ihres Alters fahnden, nicht auf solche des bestimmten Schriftstellers. Aber auch für das Alter ist die Ausbeute gering.
Die Sprache ist die der klassischen Zeit der armenischen Literatur.
An einer Stelle (Nr. 16) wendet sich der Verfasser gegen die Doketen und macht Beweisgründe für die Wirklichkeit der menschlichen Natur in Jesus geltend. Ist das geschehen in einfach theoretisch dogmatischer Stellungnahme gegen den in früherer Zeit aufgetretenen Doketismus oder geschah es in praktischer Polemik gegen den Doketismus einer von der armenischen Kirche verworfenen christologischen Richtung? Seit dem 6. Jahrhundert spielte der Gegensatz der Sererianer und Julianisten auch nach Armenien hinüber. Im Jahre 726 fand eine armenisch-syrische Synode zu Manazkert statt, welche unter Johannes Otsneti den Doketismus der extremen Julianisten vorwarf (s. Ter. Minasseantz, Die armenische Kirche in ihren Beziehungen zur syrischen, Leipzig 1904, S. 39 f. 71 ff.). Allein dieser Umstand ist noch kein Grund, die Homilie in das 6. oder 7. Jahrhundert herabzusetzen. Denn die Polemik derselben ist so kurz und farblos, daß kaum an eine praktisch zu bekämpfende Richtung zu denken ist. Übrigens hat ja auch Epiphanius und Theodoret sich gegen die Doketen gewandt, so daß in der anschließenden Zeit eine Berührung der doketischen Irrlehre durch einen armenischen Kanzelredner des fünften Jahrhunderts nicht weiter verwundert.
S. 6 Viel energischer wendet sich der Homilet gegen Nestorius und, was besonders ins Gewicht fällt, gegen Theodoret von Cyrus. Diese Namen bedeuten geistige Bewegungen im Christentum, welche auch in Armenien hohe Wellen geschlagen haben. Die spätere Zeit hat es erlebt, daß die Ablehnung des Nestorianismus bis zum Extrem des Monophysitismus fortgeschritten ist. Theodoret von Cyrus war zwar auf dem Konzil von Chalcedon, nachdem er den Nestorianismus verworfen und die epistola Flaviani unterschrieben hatte, rekonziliiert worden. Allein seine Wiederanerkennung fand im Osten vielfachen und nachhaltigen Widerspruch. Auch in Armenien ist das Chalcedonense unter Babgen verworfen worden. Aber im Brief des Lazar von Pharp an Wahan wird Theodoret doch noch nicht als Ketzer aufgeführt. Da der Redner in stark rhetorischer Pose Nestorius und Theodoret direkt anredet, so ist er und seine Zuhörerschaft lebhaft vom Interesse an der Abwehr gegen beide erfüllt zu denken, noch mehr wird man annehmen dürfen, er sieht dieser Häresie als einer die Zeit bedrohenden Gefahr ins Angesicht. Da es schwer geht, die Homilie des Mambre als solche schon vor 451
geschrieben zu denken, unmöglich ist es nicht, so wäre sie in der Zeit bald nach dem Konzil verfaßt, vielleicht ehe noch die Rehabilitation des Theodoret in Armenien bekannt geworden war oder vielleicht als Mambre die Zustimmung zur Rehabilitation des Theodoret sich noch nicht hatte abgewinnen lassen. Wenn 480 der Bischof von Cyrus in Armenien für rechtgläubig galt und deshalb nicht in der Liste der Häretiker bei Lazar erscheint, so würde unsere Homilie zuvor geschrieben sein und zwar wohl im Anfang des bis 480 verflossenen Trizenars. Zu dieser Zeitbestimmung raten noch die Schwierigkeiten, die es hat, die Zeit nach dem fünften Jahrhundert, d. h. das sechste oder siebte oder eine noch spätere Zeit als Abfassungszeit zu denken und damit die Zueignung an Mambre zu vereinbaren. Der Gegensatz gegen das Konzil von Chalcedon war später ein so schroffer und bitterer, daß ein Autor jener Zeit nicht leicht zufrieden gewesen wäre, Nestorius und Theodoret zu nennen, ohne vom Konzil und seinen Anhängern zu sprechen. Man darf wohl S. 7 auch daran erinnern, daß die Bemerkung, wie die Künstler das Bild des Königs herstellen, in eine Zeit weist, wo den Armeniern der Gedanke an
Könige geläufiger war als in der Zeit der fortgeschrittenen Fremdherrschaft. Zu Gleichem dient das Bild des Königsschlosses in Nr. 13. Noch möchte man meinen, daß in Nr. 10 in den Motiven der Totenklagen Gedanken mitspielen, welche noch nicht überwundene Reste der heidnischen Gesinnung sind. Wie sehr kontrastieren sie doch gegen die aszetische Gesinnung, die Elische in der Mahnrede für die Mönche und im Vaterunser zu verbreiten bemüht ist, und die der Verfasser dieser Homilie selbst vertritt (s. Nr. 17).
Als Kriterien persönlicher Art lassen sich auf Mambres Stellung und Tätigkeit jene Bemerkungen beziehen, wo er deutlich auf die Schule abhebt, wie wo er Maria und Martha mit Schülern aus derselben Schule vergleicht (Nr. 13), oder wo er von der Schwierigkeit spricht, Unwissende zu belehren (Nr. 8). Verzanogh spiegelt sich wohl in der merklichen Belesenheit des Autors in der Heiligen Schrift. Und der als zweiter Philosoph gefeierte Mann mochte sich in der mehrfach geäußerten trefflichen Beurteilung der Menschen offenbaren.
Müssen wir uns zufrieden geben mit dem Zeugnis der Überlieferung für Mambre und mit der Gewißheit, daß der Inhalt der Rede dieser Überlieferung nicht widerspricht, ohne aber für sie auch einen erschöpfenden Beweis zu bieten, so sind wir doch sicher, in dieser Rede ein beachtenswertes Literaturprodukt vor uns zu haben. Es ist kulturhistorisch außerordentlich interessant, beachtenswert wegen seiner Mitteilungen zur palästinischen Ortskunde und merkwürdig als Lehrdokument in der altarmenischen Kirche. Die Exegese ist nicht vollständig, die Abhandlung vom apologetischen Ton durchklungen. Alle Ausführungen dienen dem einen Endziel, das Wunder der Totenerweckung des Lazarus durch Herausstellung einer sicheren Zeugenschaft festzustellen, damit durch dieses abschließende Wunder die ganze Wundertätigkeit Christi gesichert werde. Die Prüfung erstreckt sich dabei aber nicht auch auf die Geschichtlichkeit des äußeren S. 8 Vorgangs, sondern nur auf die Gewißheit, daß der
Vorgang ein wahres Wunder ist. Von der Geschichtlichkeit des Evangeliums setzt Mambre voraus, daß sie durch die christliche Überlieferung gewährleistet ist. Manche seiner Ausführungen sind recht naiv. Aber dennoch verrät der Verfasser einen guten kritischen Blick bei Bemessung der Bedeutung des einzelnen. Mit N. Fink (Literaturen des Ostens VII, 2, S. 96) darf man die Rede „ein Muster einfacher, allen leeren Wortprunk meidender Erzählung und Gedankendarlegung“ nennen. Wer die Ausführungen auf sich wirken läßt, wird es selbst empfinden, daß die echt homiletisch aufgebaute Rede durch die geschickte Verwertung der Einzelmomente des Herganges die Wunderbarkeit recht eindrucksvoll zum Bewußtsein bringt und so recht erhebend zum Ausblick auf die allgemeine Auferstehung in der Kraft des christlichen Glaubens anregt.