II. Kapitel
Wundert euch nicht, wenn ich behaupte, ich hätte für euch, die ihr doch täglich eure Lehrer besucht und mit den berühmtesten Männern des Altertums durch deren literarische Hinterlassenschaft in Fühlung steht, noch etwas Eigenes und besonders Wertvolles zu sagen. Eben das, was ich euch jetzt anraten will, ist [der Rat], ihr mögt doch nicht diesen Männern ein für allemal gleichsam Steuer und Segel eures Geistes anheimgeben und ihnen dahin folgen, wohin sie euch führen, vielmehr euch darüber klar werden, was neben dem Nützlichen, das ihr aus ihnen schöpft, bei ihnen auch zu übergehen, habt. Was das ist, und wie wir es erkennen, das will ich nun eben an der Hand jener Schriftsteller zeigen.
S. 448 Meine Jünglinge, wir halten dies irdische Menschenleben überhaupt für keinen Gewinn, wähnen und nennen durchaus kein Gut, was nur eine diesseitige Seligkeit bringt. Ahnenglanz, Körperstärke, Schönheit, Größe, allseitige Ehrung, selbst die Königswürde, kurz alles, was man menschlich groß nennen möchte, halten wir nicht einmal für begehrenswert, geschweige denn, daß wir ihre Besitzer anstaunen; wir gehen in unseren Hoffnungen weiter und tun alles zur Erlangung eines andern Lebens. Was uns nach dieser Richtung hin förderlich ist, das muß man unseres Erachtens lieben und mit aller Kraft anstreben, aber als wertlos beiseite lassen, was nicht auf jenes Leben abzielt.
Was es um dieses Leben ist, wo und wie wir es zubringen werden, darüber zu sprechen ginge über mein augenblickliches Vorhaben hinaus und erforderte auch größere Zuhörer, als ihr seid1 . Nur soviel will ich sagen, und damit dürfte ich euch genug angedeutet haben, daß alle Glückseligkeit aller Menschen, von ihrer Erschaffung an zusammengezählt und zusammengenommen, nicht einmal dem kleinsten Teile jener Güter vergleichbar ist, daß vielmehr alle Güter hienieden zusammen an Wert noch mehr hinter dem kleinsten jenseitigen Gute zurückstehen, als Traum und Schatten hinter der Wahrheit. Ja, um mich eines besseren Vergleiches zu bedienen: So hoch die Seele über allen Fähigkeiten des Körpers steht, so groß ist der Unterschied zwischen dem jenseitigen und diesseitigen Leben.
Zu jenem Leben weisen nun den Weg die heiligen Schriften mit ihren geheimnisvollen Lehren. Solange wir aber wegen des [jugendlichen] Alters2 nicht imstande sind, die Tiefe ihres Sinnes3 zu erlauschen, üben wir zunächst unser geistiges Auge an anderen Schriften, die ersteren nicht ganz fremd, sondern gleichsam als deren Schatten und Spiegel gegenüberstehen, und machen es so denen nach, die auf den Kampf S. 449 sich einüben; haben nämlich solche in Hand- und Fußbewegungen sich gut trainiert, dann haben sie beim Kampfe den Nutzen von diesen Übungen. Nun haben auch wir einen Kampf zu kämpfen, und zwar den schwersten aller Kämpfe; dessen müssen wir uns bewußt sein. Für diesen haben wir uns zu wappnen und darum alles zu tun und nach Kräften uns zu mühen, müssen mit Dichtern, Geschichtschreibern, Rednern, kurz mit allen Menschen uns abgeben, die uns irgendwie zur Förderung des Seelenheils von Nutzen sein können. Wie die Färber erst sorgfältig vorbereiten, was sie einmal färben wollen, z.B. die Farbe beschaffen, die sie brauchen, sei es Purpur, sei es eine andere Farbe, so müssen auch wir, soll uns der Ruhm der Tugend unauslöschlich verbleiben, zuvor dieser Profanliteratur uns widmen; erst dann können wir den heiligen und geheimnisvollen Lehren aufhorchen. Erst müssen wir uns daran gewöhnen, die Sonne im Wasser zu sehen, ehe wir unseren Blick auf das Licht selbst heften.
Besteht nun zwischen den beiderseitigen Lehren4 eine Verwandtschaft, so wird ihre Kenntnis uns von Nutzen sein, wenn nicht, dann macht eine vergleichsweise Zusammenstellung uns auf den Unterschied aufmerksam und dient nicht wenig zur Befestigung des Besseren. Wie könnte man denn wohl die heidnische und christliche Lehre in ihrem Verhältnisse zueinander bildlich darstellen? Etwa mit einem Baume, dessen eigentlicher Wert darin liegt, daß er zu seiner Zeit Früchte trägt, der aber doch auch seinen Schmuck hat und Blätter treibt, die die Zweige umrauschen. So verlangt auch die Seele vornehmlich eine Frucht in der Wahrheit5 ; aber es steht ihr auch das Gewand fremder Weisheit nicht übel an, wie denn auch Blätter der Frucht Schatten und ein liebliches Aussehen verschaffen. — So soll denn auch Moses, der Hochberühmte, der dank seiner Weisheit in aller Welt den größten Namen hat, seinen Verstand in der Wissenschaft der Ägypter geschult haben und so zur S. 450 Erkenntnis dessen gekommen sein, „der da ist6 ,“. Ähnlich soll auch später der weise Daniel in Babylon die Weisheit der Chaldäer erlernt und erst dann mit den göttlichen Lehren sich abgegeben haben7 .
Doch jetzt sind der Worte genug darüber, daß solches Studium der profanen Wissenschaft nicht wertlos ist; inwieweit aber ihr euch damit beschäftigen sollt, davon soll im Folgenden die Rede sein.
Fürs erste dürft ihr nicht allem, was die Dichter sagen, um damit zu beginnen — es gibt ja ihrer so manche und verschiedene —, und allen der Reihe nach8 eure Aufmerksamkeit schenken. Aber wenn sie von Handlungen und Reden guter Männer erzählen, so sollt ihr sie lieben und nach Kräften nachzuahmen versuchen. Kommen sie auf schlechte Menschen zu sprechen, so müßt ihr euch in Acht nehmen und eure Ohren verschließen, genau so, wie es Odysseus bei den Sirenengesängen gemacht haben soll9 . Denn die Angewöhnung an schlechte Reden ist leicht der Weg zu schlechten Taten. Deshalb müssen wir mit aller Sorgfalt uns davor hüten, nicht durch das Wohlgefallen an den Worten unvermerkt etwas Schlechtes in unsere Seele aufzunehmen, wie die, welche mit dem Honig das Gift einnehmen. Wir dürfen die Dichter auch nicht loben, wenn sie schmähen und spotten, Verliebte oder Trunkene schildern, auch nicht, wenn sie die Glückseligkeit nach einer luxuriösen Tafel und ausgelassenen Liedern bemessen. — Am wenigsten aber dürfen wir auf sie hören, wenn sie von ihrer Vielheit10 und Uneinigkeit erzählen. Denn bei ihnen steht Bruder gegen Bruder auf, Vater gegen Kinder, und die Kinder führen wiederum einen unversöhnlichen Krieg gegen die Eltern. Ehebrüche, Buhlereien und öffentliche Umarmungen der Götter, S. 451 besonders die ihres Oberhauptes, des höchsten Zeus, wie sie ihn nennen, die man ohne Erröten nicht einmal von Tieren aussagen könnte, wollen wir den Schauspielern überlassen.
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Vgl. oben S. 446, Anm. 1 ↩
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Vgl. oben S. 447. Anm. 1 ↩
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Vgl. 1Kor 2,10. ↩
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D.h. der Hl. Schrift und der Profanliteratur. ↩
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Vgl. Joh 8,32; 2Kor 4,2. ↩
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Vgl. Exod 3,14. — „θεωσία τοῦ ὂντος“ könnte wohl auch bedeuten: „Erkenntnis des Wahren“ ↩
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Vgl. Dan. c. 1. ↩
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D.h.: Man darf nicht alle Dichter ausnahmslos lesen. ↩
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Vgl. Homer, Odyssee XII, 89 ff. ↩
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Vielleicht schwebte Basilius hier die Theogenie Hesiods vor Augen. ↩