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S. 89 Über das Gebet gibt uns das göttliche Wort selbst einen Unterricht, in welchem es seinen würdigen Schülern, die da ernstlich nach dem wahren Verständnis des Gebetes trachten, schon durch das Gebetsformular den Weg weist, auf welchem sie sich die Erhörung bei Gott verschaffen können. Falls es aber nicht zu kühn ist, möchte ich meinerseits zu den Worten der Schrift einen kleinen Zusatz machen. In der heutigen Versammlung will ich nämlich ausführen, nicht wie wir beten sollen, sondern daß wir überhaupt beten müssen, ― eine Wahrheit, die das Ohr gar vieler wohl noch nicht so ganz erfaßt hat. Von nicht wenigen wird ja im Leben dieses heilige und göttliche Werk vernachlässigt und zurückgesetzt, das Gebet. Deshalb halte ich für angezeigt, zuerst in meiner Rede eindringlich die Pflicht zu bezeugen, daß wir, wie der Apostel sagt, im Gebete anzuhalten haben (Röm. 12, 12); dann erst wollen wir auf das Wort Gottes hören, das uns die Art und Weise angibt, wie wir unser Gebet dem Herrn vortragen sollen.
Klar sehe ich nämlich, daß heutzutage allem möglichen mit größtem Eifer nachgegangen wird, indem der eine sein Herz an dieses, der andere an jenes hängt; das kostbare Gut des Gebetes aber lassen sich die Menschen nicht angelegen sein. In aller Frühe eilt der Kaufmann an sein Geschäft, eifersüchtig bemüht, eher als seine Gewerbsgenossen seine Waren den Käufern anzubieten, um deren Wünsche zuerst zu befriedigen und die Waren schnell anzubringen. Ebenso eilt der Käufer aus Besorgnis, ein anderer könnte ihm das, was er benötigt, vorwegkaufen, nicht zum Bet-, sondern zum Kaufhaus. Und weil alle die gleiche Gewinnsucht haben, und jeder dem S. 90 anderen zuvorkommen will, so wird vor lauter Geschäftseifer die Zeit, welche dem Gebete gewidmet werden sollte, in mißbräuchlicher Weise auf Handel und Verdienst verwendet. So macht es der Handwerker, so der Gelehrte, so der Prozeßführende, so der Richter: jeder verlegt sich ganz und gar auf Geschäft und Beruf; der Gebetsdienst aber wird völlig vergessen, in dem Wahn, die Zeit, welche man auf den Umgang mit Gott verwendet, bedeute einen Schaden für unsere irdischen Obliegenheiten. Denn der, welcher dem Handwerke nachgeht, meint, ein ganz unnützes und unwirksames Ding sei die Hilfe Gottes zu seiner Verrichtung. Deshalb unterläßt er das Gebet und setzt seine Hoffnung auf seine Hände, ohne an den zu denken, der ihm die Hände gegeben. Ebenso denkt der Mann der Wissenschaft nicht an den, der ihm die Wissenschaft gegeben, sondern geradeso, als ob er sich selbst in unser menschliches Dasein eingeführt hätte, richtet er seine ganze Aufmerksamkeit auf sich und auf den eifrigen Betrieb der Studien1, und im Wahne, die Hilfe Gottes verschaffe ihm keinen Nutzen, gibt er der Forschung und dem Unterricht den Vorzug vor dem Gebete.
In gleicher Weise verdrängen auch die übrigen Berufe die Beschäftigung der Seele mit den höheren und himmlischen Dingen durch die Sorge um die leiblichen und irdischen. Infolgedessen ist die Sünde so mannigfach im Leben verbreitet, nimmt stets wachsend immer größeren Umfang an und dringt immer mehr in das Tun und Lassen der Menschen ein, weil allenthalben Gottvergessenheit herrscht und die Menschen den Segen des Gebetes nicht an ihre Beschäftigungen knüpfen wollen. Mit dem Handel zieht die Habsucht einher; die Habsucht ist aber Götzendienst (Kol. 3, 5). Ähnlich betreibt der Landmann den Feldbau nicht nach Maßgabe seiner Bedürfnisse, sondern indem er seiner Begierde gestattet, immer mehr zu verlangen, gewährt er der Sünde weiten Zutritt zu seiner Tätigkeit, so daß er sogar seine Grenzmarken auf Kosten anderer ausdehnt. Daher jene schwer schlichtbaren Streitigkeiten, wenn die Leute, von der nämlichen S. 91 Krankheit der Habsucht ergriffen, wegen der Feldmarken aneinander geraten. Daraus entspringen dann die Zornausbrüche und die Pläne der Rachsucht und die gegenseitigen Händel, die oft genug mit Blut und Mord endigen. Ebenso bietet der Eifer, mit dem man dem Gerichtswesen nachgeht, Anlaß zu Sünden verschiedener Art, indem er auf tausend Mittel sinnt, das Unrecht zu verteidigen. Der Richter beugt entweder wissentlich die Wage der Gerechtigkeit nach der Seite seines Vorteils, oder er bestätigt ohne es zu wollen, das Unrecht, getäuscht durch die Schliche derer, welche die Wahrheit trüben. Wozu sollte man noch weiter die vielen und verschiedenartigen Wege im einzelnen aufweisen, auf denen die Sünde in das menschliche Leben eindringt? Und daran trägt nur der Leichtsinn die Schuld, mit dem man es unterläßt, die Hilfe Gottes zur Verrichtung der irdischen Geschäfte herbeizurufen.
Geht jedoch Gebet unserem Tun und Lassen voraus, so wird die Sünde keinen Zugang zur Seele finden. Denn wenn die Erinnerung an Gott Wurzel gefaßt hat, so bleiben die Anschläge des Prozeßgegners erfolglos, weil die Gerechtigkeit die Entscheidung in der Verhandlung gibt. Auch den Landmann hält das Gebet von der Sünde ab, da es die Früchte auf einem kleinen Fleckchen Erde vermehrt, so daß nicht mehr mit der Begierde nach immer größerem Besitz die Sünde sich einschleicht. Das nämliche gilt von dem, der eine Reise antritt, auch von dem, der in den Krieg zieht oder eine Ehe schließt, überhaupt von jedem, der ein Werk beginnt; wenn der Mensch alles mit Gebet unternimmt, so wird er, auch wenn er noch so ernstlich nach seinem irdischen Ziel strebt, doch von der Sünde abgehalten, da ihm nichts begegnen kann, was imstande wäre, ihn zur Leidenschaftlichkeit hinzureißen. Wenn dagegen jemand unter Beiseitesetzung Gottes ganz in seinem Geschäfte aufgeht, so wird er schon dadurch, daß er sich außerhalb Gottes stellte, notwendig in dem sein, was Gott widerstrebt. Außerhalb Gottes stellt sich aber jeder, der sich nicht durch das Gebet mit Gott verbindet. Demnach müssen wir uns durch das Wort der Heiligen Schrift dahin belehren lassen, daß „wir immer beten und darin nicht ermüden sollen“ (Luk. 18, 1); denn S. 92 durch das Gebet wird die Verbindung mit Gott hergestellt; wer aber mit Gott verbunden ist, ist notwendig von dem geschieden, was Gott widerstrebt.
Das Gebet ist der Schutz der Mäßigung, die Zügelung des Zornes, die Unterdrückung des Hochmutes, die Befreiung von Rachsucht, die Ausrottung des Neides, die Vernichtung der Ungerechtigkeit, die Errettung aus der Gottlosigkeit. Gebet ist Stärke des Leibes, Gedeihen der Familie, Gesetzlichkeit im Staate, Stütze der Herrschaft, Sieg im Kriege, Bürgschaft des Friedens, Versöhnung der Feinde, Bewahrung der Freundschaft. Das Gebet ist das Siegel der Jungfräulichkeit, die Treue in der Ehe, die Wehr der Wanderer, der Wächter der Schlafenden, die Zuversicht der Wachenden, die Bürgschaft der Ernte für die Landwirte, die Rettung der Seefahrer. Gebet ist der Anwalt der Angeklagten, die Erlösung der Gefangenen, die Erholung der Müden, die Wonne der Fröhlichen, die Aufrichtung der Gedrückten, der Trost der Trauernden, der Kranz der Brautleute, die Verherrlichung der Geburtsfeier, das Sterbegewand der Verscheidenden. Das Gebet ist Umgang mit Gott, Schauen der unsichtbaren Dinge, Erfüllung der Sehnsucht, Verähnlichung mit den Engeln, Fortschritt im Guten, Zerstörung des Bösen, Bekehrung der Sünder, Genuß der Gegenwart, Zuversicht auf die Zukunft. Das Gebet machte dem Jonas das Seeungeheuer zur Wohnung (Jon. 2, 3), brachte den Ezechias, als er schon hart an den Pforten des Todes war, zum Leben zurück (4 Kön. 20, 5 [2 Kön. nach neuerer Zählart]); den drei Jünglingen im Feuerofen verwandelte es die Flammenglut in Tauwind (Dan. 3, 50); den Israeliten errang es im Kampfe mit den Amalekitern den Siegeskranz (Exod. 17, 11), und in einer einzigen Nacht tötete es 185,000 Assyrier mit unsichtbarem Schwerte (4 Kön. 19, 35 [2 Kön. nach neuerer Zählart]). Außer diesen lassen sich noch tausend Beispiele aus der Vergangenheit anführen, die beweisen, daß es unter allem, was im Leben kostbar ist, nichts Höheres gibt als das Gebet.
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ταῖς τῶν μαθημάτων σπουδαῖς [tais tōn mathēmatōn spoudais] (Öhler, S. 204) wahrscheinlicher als: ταῖς τῶν μαθητῶν σπουδαῖς [tais tōn mathētōn spoudais]. ↩