Einleitung zur Schrift: „Über die Seligpreisungen."
S. 35 1 Im Gegensatz zur vorhergehenden Schrift „Über das Gebet (des Herrn)“ verrät die Reihe dieser acht Homilien einen mehr nüchternen und dem gewöhnlichen Leben S. 36 der Menge angepaßten Ton. Hervorragend sind die als Kehrseite zu den Seligkeiten eingestreuten Sittenschilderungen, welche die scharfe Beobachtungsgabe des Verfassers und seine Neigung zu physiologischen Studien offenbaren. Er unterläßt auch nicht, die verschiedenen Tugenden begrifflich zu umgrenzen und ebenso für die praktische Bestätigung derselben Winke an die Hand zu geben, wie von den entgegengesetzten Lastern in wirksamer Sprache abzuschrecken. Die acht Seligpreisungen sind ihm eine Leiter, deren Sprossen immer höher bis zum innersten Heiligtum, zur Kindschaft Gottes, führen.
Die „Armut im Geiste“ versteht er als Demut, läßt aber auch die andere Auffassung von der Losschälung von den irdischen Gütern gelten. In der zweiten Seligpreisung will er nicht eine gänzliche Unempfindlichkeit vom Herrn empfohlen sehen, sondern die Beherrschung des Zornes. Die drastische Schilderung eines im Zorn Wütenden läßt an Anschaulichkeit nichts zu wünschen übrig. Daß die „Trauernden“ seliggepriesen werden, erregt den Spott der Weltmenschen; der Verfasser weiß dagegen die soliden Gründe und Gegenstände der vom Evangelium gepriesenen Traurigkeit ins Feld zu führen. Der edelste unter ihnen liegt in der Sehnsucht nach den ewigen Gütern. Gregor kennt die antike Ethik und leitet von ihr zur höchsten göttlichen Gerechtigkeit empor. Christliche Genügsamkeit und heidnischer Tafelluxus u. dgl. treten in scharfen Gegensätzen zueinander. Die Homilie über die fünfte Seligpreisung enthält einen warmen Lobhymnus der Liebe. Welch herrliches Reich würde unter den Menschen erstehen, wenn sie zur Herrschaft gelangte? Überraschend wirkt die Mahnung, gegen sich selber barmherzig zu sein, d. h. der Tyrannei der Leidenschaften sich zu entreißen. Auf eine „hohe Felsenspitze“ sieht sich Gregor gestellt, wenn er es unternimmt, von der erhabenen sechsten Seligpreisung zu sprechen, daß nämlich die reinen Seelen Gott schauen werden. Mannigfache Stufen der Gotteserkenntnis gibt es, auch eine des Besitzens Gottes. Wenn das Herz ganz gereinigt ist, spiegelt sich Gottes Schönheit darin und er wird als S. 37 Abbild in der eigenen Seele geschaut2. Über die eigene Natur hinaus schreitet der Mensch, wenn er als „Friedfertiger“ zum Kinde Gottes wird. Wo sind Worte zu finden, um ein solches Glück zu beschreiben, um die aufwallende Begeisterung zu fassen? Ruhiger eilt der Prediger zum Ende seiner Betrachtungen, wenn er den Nutzen der Verfolgungen erörtert und an biblischen Beispielen illustriert. Christus ist ihm der ermutigende Kampfrichter und zugleich der Kampfgenosse des streitbaren Jüngers.
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Aus: Des heiligen Bischofs Gregor von Nyssa Schriften / aus dem Griechischen übers. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 56) Kempten; München : J. Kösel : F. Pustet, 1927. ↩
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Neben der Schau Gottes im Spiegelbilde in der Seele kennt Gregor auch ein unmittelbares, allerdings nicht komprehensives Schauen Gottes. Vgl. M. 44, 376 f. ἀεὶ πρὸς τὸ ἐνδότερον ἴεται, ἕως ἂν διαδυῇ . . . πρὸς τὸ ἀθέατὸν τε καὶ ἀκατάληπτον κακεῖ τὸν Θεὸν ἴδῃ [aei pros to endoteron ietai, heōs an diadyē . . . pros to atheaton te kai akatalēpton kakei ton Theon idē]. Plotin hat hier auf den Nyssener eingewirkt. Auf diesen stützt sich hinwieder der Ps.-Areopagite Myst. theol. I 3. ↩