1.
Es kann sich hier auf keinen Fall um eine allseitige Würdigung unserer Schrift nach ihrer literarischen, historischen und theologischen Bedeutung handeln, da sonst hierzu auch die übrigen Werke des Heiligen beigezogen und berücksichtigt werden müßten, was jedoch den Rahmen der in vorliegender Sammlung gestellten Aufgabe überschreiten würde. Doch dürfte es nicht unangebracht sein, wenigstens einigen Andeutungen im folgenden Raum zu geben.
Nach außen hin legt für die außerordentlich große, literarische Bedeutung der Abhandlung „De sacerdotio„ innerhalb der Literaturen der verschiedensten Völker die ausnehmend hohe Anzahl von Sonderausgaben und Übersetzungen in sämtliche Kultursprachen beredtes Zeugnis ab, wie im vorhergehenden Paragraphen im einzelnen dargetan wurde. Auch darauf darf nochmals hingewiesen werden, wie der hervorragende Ruf, den gerade unsere Schrift schon bald nach ihrer Abfassung in den weitesten Kreisen erlangt haben mußte, aus der Tatsache erhellt, daß der hl. Hieronymus in seiner 392 zu Bethlehem niedergeschriebenen Literaturgeschichte „De viris illustribus“1 unter den „vielen“ Werken des Chrysostomus, deren Kunde zu ihm gedrungen, als einziges mit Namen nur das „Über das Priestertum“ kennt und ausdrücklich bemerkt, es gelesen zu haben. Wie seitdem die anerkennenden und begeisterten Zeugnisse aller Jahrhunderte sich häufen, ja gewissermaßen im Lobe und in der Verherrlichung unserer Abhandlung als der nach Form und Inhalt schönsten und vollendetsten des großen Patriarchen wetteifern, angefangen von Isidor von Pelusium im fünften Jahrhundert, Suidas im zehnten, Baronius im sechzehnten bis zu den S. 82 neuesten Literaturgeschichten aller Länder und Zonen auch dafür ist in Paragraph 1 bereits eine beträchtliche Reihe von Belegen vorgeführt worden.
Als literarische Kunstform hat Chrysostomus in Nachahmung der antiken, namentlich der platonischen Dialogschriftstellerei für seine Abhandlung „Über das Priestertum“ die auch sonst in christlichen Kreisen beliebte Dialogform gewählt. Aus welchen Gründen, innerhalb welcher Grenzen und mit welchem Erfolge dies geschah, wurde ebenfalls in Paragraph 1 eingehend dargelegt. Wie an ungezählten Stellen seiner übrigen Schriften und Homilien, so zeigt Chrysostomus als Libaniosschüler auch in der vorliegenden seine umfassende Kenntnis der Geistesprodukte der antik–klassischen Kultur, im speziellen seine Bekanntschaft mit den Werken eines Homer, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Isokrates, Demosthenes, Thukydides, Vergil und Plato2.
Noch mehr begegnet uns auf Schritt und Tritt seine gründliche Beherrschung der Heiligen Schrift, des Alten Testamentes nicht minder wie des Neuen, was bei einem Kirchenvater des vierten Jahrhunderts, der zudem seine theologische Ausbildung nach den Prinzipien der antiochenischen Exegetenschule erhalten hatte, selbstverständlich nicht anders erwartet werden kann. Man gewinnt bei der Lektüre unserer Abhandlung „Über das Priestertum" unmittelbar den Eindruck, daß Chrysostomus schon bei deren Abfassung kein anderes Buch so sehr gelesen, meditiert und studiert haben mochte, als die ihm als Gottes Wort geltenden heiligen Schriften der Bibel.
Gerade in unserer Schrift erreicht der von jeher so viel gepriesene Stil unseres Heiligen seine reinste und höchste Ausprägung.
Was das sprachliche Idiom anbelangt, dessen sich Chrysostomus bedient, so rühmt schon Isidor von Pelusium, für den speziell die sechs Bücher „Über das Prie- S. 83 stertum„ ein einziges Entzücken bilden3, den ausgesprochenen, echten Attizismus 4, welcher die ganze Schreibweise des hochgebildeten Libaniosschülers so sehr auszeichne. Isidor beruft sich dabei auf kein geringeres Zeugnis als auf das des hochberühmten Lehrers Libanios selbst und des Plutarch, von welch ersterem er ein denkwürdiges, begeistertes Glückwunschschreiben mitteilt, das der Lehrer und Meister voll Stolz und Anerkennung an den ehemaligen Zögling gerichtet hatte. Chrysostomus hatte nämlich an Libanios eine von ihm gehaltene Rede eingesandt, und dieser konnte nicht umhin, dieselbe vor einem auserlesenen Auditorium von Rhetoren und Meistern der Beredsamkeit vorzulesen. Und siehe da, zur größten Freude des Libanios war in deren gewiß kritikfähigen Reihen keiner, der nicht von Bewunderung hingerissen gewesen wäre und seinem vollen Beifall ostentativ den lautesten und ungeschminktesten Ausdruck verliehen hätte5. In gleicher Weise wie der Pelusianische Isidor des fünften Jahrhunderts rühmen die maßgebendsten Philologen der alterneuesten Zeit, so z. B. in W. von Christ's Geschichte der griechischen Literatur die neuesten Herausgeber O. Stählin und W. Schmid unseren Vater als „den sprachgewaltigsten Redner, den die griechische Kirche hervorgebracht hat.... Alle Kunst, der Glanz der attischen Sprache, die er meisterhaft beherrscht, der Reichtum an Gleichnissen und packenden Bildern, alles soll nur dem einen Zweck dienen, die sittlichen Kräfte des Christentums für die Hörer wirksam werden zu lassen“6. Und U. v. Wilamowitz-Möllendorf nennt ihn „einen beinahe
Es darf nochmals daran erinnert werden, daß, wie insbesondere Norden in seinem bekannten Werke über „Die antike Kunstprosa“8 umfassend dargelegt hat, die Beeinflussung der christlichen Literatur durch die sophistische Rhetorik gerade im vierten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Waren doch die bedeutendsten Männer innerhalb der griechischen Kirche jener Zeit, so Basilius von Cäsarea und Gregor von Nazianz als Schüler des Himerius und Präheresius zu Athen, Johannes Chrysostomus des Libanius zu Antiochien, von Haus aus in der rhetorischen Methode geschult, ja hatten selber eine Zeitlang Rhetorik gelehrt. Kein Wunder, daß infolgedessen der Einfluß der hellenischen Rhetorik bei allen diesen Männern und ihren Zeitgenossen weit über die eigentliche Rede und christliche Predigt hinausreichte, sich auch bei jeder Art von Abhandlung, so im Briefe, Dialoge, überhaupt im literarischen Stile der ganzen Epoche, geltend machte. So finden wir, daß auch in der Schrift des hl. Chrysostomus „Über das Priestertum“ dieselben Ausdrucks- und Kunstmittel, Redefiguren usw. zur Anwendung gelangen, wie in des gewaltigen Homileten groß angelegter Redner- and Predigertätigkeit. Auch hier zeigt sich die allseits an unserem Vater gerühmte „volle Beherrschung der rhetorischen Technik“9, und mit Recht redet Puech10 von einem „ton oratoire“, der neueste Herausgeber Nairn11von einem
Anderseits darf als Zweites nicht vergessen werden, daß in seiner ganzen kunstvollen Diktion nicht bloß der Niederschlag der unserem Libaniosschüler geläufigen Welt des Hellenismus zu erblicken ist, daß vielmehr neben den Gesetzen der antiken Kunstprosa als dem ersten Quellgrunde der unversieglich dahinfließende, gewaltige Strom seiner Worte, Bilder und Gleichnisse unaufhörlich genährt wird durch die genaueste, immerfort zu Gebot stehende Kenntnis der Hl. Schrift, der Quelle alles Erhabenen. Aus letzterer holt er den auch im Traktate „Über das Priestertum“ zutage tretenden unerschöpflichen Reichtum an biblischen Geschichten, bei deren Vorbringung er eine seltene Gewandtheit besitzt, sie für jegliche darzustellende Situation lehrreich und vorbildlich zu machen, und seine vertraute Bekanntschaft mit dem Menschen, dem Menschenleben, überhaupt der ganzen Naturwelt, die es ihm ermöglicht, seine Bilder und Gleichnisse, für welche er die einzelnen Züge den Erfahrungskreisen des täglichen Lebens entnimmt, vermittelst einer farbenreichen und berauschenden Sprache recht unmittelbar und anschaulich zu gestalten, um schließlich vermöge einer handgreiflichen, scharfen Beweisführung in der Regel schonungslos den richtigen Fleck zu treffen. Man könnte kombinieren, daß Chrysostomus unter Ausnutzung einer überaus glücklichen natürlichen Begabung von den Philosophen die Kunst geistig belebter und zugleich sinnlich anschaulicher Gedankenentwicklung gelernt hat, von den Dichtern und Rhetoren den Blick für das Typische und Charakteristische in der Erscheinungswelt, den glänzenden Schwung und die hohe Freiheit der Sprache und schließlich aus dem Studium der Hl. Schrift einen alles umfassenden Tiefblick in die Welt der sinnlichen und geistigen Wirklichkeit gezogen hat, dem keine Linie, keine Farbe entgeht, der den Zauber der Natur, die Intimitäten des örtlichen und geistigen Milieus, die eigenartigen Beschaffenheiten menschlicher Charaktere und ihre Ausprägung in Reden, Bewegungen, Handlungen mit unfehlbarer Sicherheit erspäht.
Alle diese hohen künstlerischen Fähigkeiten unseres Vaters treten nirgends mehr als gerade im Dialoge „Über das Priestertum" in die Erscheinung, wohl um dessentwillen, weil diese Schrift offenbar in einem Zeitpunkt abgefaßt ist, da der Heilige noch nicht als Presbyter und Bischof so sehr mit praktischer Prediger- und Seelsorgertätigkeit überhäuft war, um nicht seine ganze Kraft und Sorgfalt seiner literarischen Arbeit widmen und an diese die letzte Feile anlegen zu können. Es ist deshalb von jeher die Kritik auch über den äußeren Stil unseres Chrysostomus-Dialogs fast ungeteilt des Lobes voll, wieder angefangen von Isidor von Pelusium12 im fünften Jahrhundert bis auf unsere Tage. So rühmt im zehnten Jahrhundert Suidas von ihm, daß er alle übrigen Schriften des Johannes übertreffe sowohl durch die Erhabenheit und Tiefe der Gedanken, als durch die Lieblichkeit und Schönheit der Sprache13. In neuerer Zeit schreibt Leo im Vorwort zu der von ihm besorgten Ausgabe unserer Schrift: „Tanta enim in hoc Libanii discipulo, qui ab aurea orationis elegantia nomen adeo duxit, est ubertas, tanta urbanitas, tanta denique verborum suavitas et elegantia, ut saepius non ecclesiae doctorem, sed Platonem vel Xenophontem vel similem Atticum scriptorem legere tibi videaris“14. Puech erblickt in unserem Dialoge „das reifste Meisterwerk, das Chrysostomus geschaffen“15, Martin „le plus estimé et certainement le plus beau de ses ouvrages“16. Desgleichen urteilt Cognet: „Quod ad stylum ac scribendi artem attinet, convenit inter prudentissimos, Chrysostomum orationem suam ita exaravisse, ut nihil unquam accuratius ediderit ac perfectius…
Ihrem eigentlichen Inhalte nach läßt sich die Schrift als eine p a s t o r a l – t h e o l o g i s c h e Abhandlung charakterisieren. Erst verhältnismäßig spät hat sich die kirchliche Schriftstellerei auf die Bearbeitung der das pastoral-theologische Gebiet behandelnden Fragen geworfen, eine Erscheinung, die sich leicht bei der richtigen Würdigung der Bedürfnisse und Aufgaben der Kirche innerhalb der drei ersten Jahrhunderte erklären läßt28. Zum ersten Male hat sich über die Aufgaben und Pflichten des Priesters in einer speziellen Schrift eingehend und ex professo verbreitet Gregor von Nazianz in seiner unmittelbar nach 362 verfaßten „Apologie wegen der Flucht nach dem Pontus“29. An ihn hat S. 89 sich Chrysostomus angelehnt und aus dessen Ausführungen nicht wenige Einzelzüge in seine eigenen sechs Bücher „Über das Priestertum“ herübergenommen, wie wiederholt seitens der Kritik durch Aufsuchung und Zusammenstellung der die Abhängigkeit des letzteren von ersterem bezeugenden Belege konstatiert wurde30. Jede der beiden Schriften ist zum größten Teile der positiven Entwicklung des priesterlichen Ideals gewidmet, dessen Erhabenheit und Schwere den einen wie den anderen Verfasser, wie mit Emphase hervorgehoben wird, genötigt habe, im Bewußtsein der eigenen Untauglichkeit und Unwürdigkeit der Würde und Bürde des Priestertums, bzw. Bischofsamtes, sich durch die Flucht zu entziehen. Auch der Grund- und Hauptgedanke kehrt in den beiderseitigen Ausführungen immer wieder, daß die praktische Ausübung des priesterlichen Berufes fast übermenschliche Anforderungen an die intellektuelle Ausbildung, die moralische Tüchtigkeit und die praktische Geschicklichkeit des Seelsorgers stelle.
Doch ist dem nicht so, als ob die Anlehnung des Chrysostomus an sein „Vorbild“31 derartig wäre, daß seinen sechs Büchern „Über das Priestertum“ hierdurch der Charakter eines selbständigen Werkes genommen erschiene. Vielmehr hat der Antiochener in denselben etwas ganz Neues geschaffen; auch übertrifft32 unbedingt seine Leistung nach jeder Richtung hin die Vorlage. Formell machen sich in der Darstellung Gregors schon um dessentwillen, weil dieselbe in die Gestalt einer Rede gekleidet ist, die sehr wahrscheinlich in kürzerer Fassung vorgetragen und durch spätere Überarbeitung auf den jetzigen Umfang erweitert worden33, die auch im Chrysostomus-Dialoge zum Teil beanstandeten stilistischen Mängel, wie sie dem rhetorischen Geschmack der damaligen Zeit entsprachen, in noch ungleich höhe- S. 90 rem Grade geltend: Kalter und hohler Wortschwall34, Kühnheit der Bildersprache, allzu starker Gebrauch der Redefiguren35, indem, wie Norden hervorhebt, „kein anderer der christlichen Redner in solchem Maße alle Mittel äußerer Rhetorik zur Anwendung brachte“36 wie Gregor von Nazianz. „Welch ein Unterschied hier und dort!“ urteilt ferner Jakoby. „Chrysostomus schildert anschaulich, konkret; das Einzelne tritt scharf hervor und prägt sich ein. Die im Wortschwall überschäumende Darstellung Gregors hingegen bringt nur den unbestimmten Eindruck entsetzlicher Zustände hervor... Er vermag nicht, den Reiz des Individuellen festzuhalten und wahrzunehmen. Gestalten und Situationen verlieren die Farbe und verblassen. Und während Chrysostomus mit schriftstellerischer Freiheit, mit einer gewissen Objektivität seinem Stoff gegenübersteht, ohne die innere Bewegung, die ihn erfüllt, zu verleugnen, wird jener für Gregor nur Anlaß bald zu dialektischer Erörterung, bald zur Entfaltung des oratorischen Pathos“37. Dementsprechend verliert sich auch der Nazianzener, wenn er in seiner ganz rhetorisch abgefaßten Apologie auf die Pflichten und Aufgaben des Priesters zu sprechen kommen will, mehr in Allgemeinheiten, indem er in maßlosem Wortschwall die Herrlichkeiten des Priestertums schildert, berührt aber im Gegensatze zu Chrysostomus, der dies so lebenswarm und instruktiv tut, die eigentlichen konkreten Aufgaben des Seelsorgers und die demselben zu erteilenden praktischen Anweisungen im einzelnen nur flüchtig und obenhin.
Auf die Abfassung einer dritten, und zwar der bedeutendsten pastoraltheologischen Abhandlung innerhalb der altchristlichen Kirche, der Regula pastoralis Gregors des Großen38, sind beide Arbeiten Gregors von Nazianz und des Johannes Chrysostomus von Einfluß gewesen. Auch der demütige Papst, der sich selber den Titel „servus servorum Dei" beigelegt hat, sucht ähnlich seinen S. 91 zwei Vorgängern gegenüber den Vorwürfen seines Freundes, des Erzbischofs Johannes von Ravenna, seine anfängliche Flucht vor der Erhebung auf den Stahl Petri in genannter Schrift zu rechtfertigen durch eine eingehende Darlegung der Erhabenheit und Schwierigkeit des geistlichen Amtes, woran sich eine höchst brauchbare Entwicklung der einzelnen seelsorgerlichen Verpflichtungen anschließt, so daß das Werk das normative Pastoralhandbuch des ganzen Mittelalters geworden ist. Seine Benützung der Rechtfertigungsrede des Nazianzeners bekundet der Papst selbst ausdrücklich, indem er sich direkt auf ihn beruft39 oder, wenn er z.B. das „Regimen animarum“ die „ars artium“ nennt40, wozu bekanntlich die Kunst der Seelsorge von dem Nazianzenischen Gregor gestempelt worden war41. Daß Gregor der Große in seiner Pastoraltheologie bei nicht wenigen seiner praktischen Anweisungen, namentlich bei Behandlung der Predigtkunst, auch eine Anlehnung an unseren Chrysostomus-Dialog „Über das Priestertum“ verrät, ist leicht ersichtlich42. Mit Recht werden die drei genannten Abhandlungen zusammen als „die Pastoraltrilogie“43 der altchristlichen Kirche bezeichnet. S. 92
In ihrem letzten und tiefsten Ausgangspunkte ist des hl. Chrysostomus Schrift „Über das Priestertum" gemäß ihres Charakters als pastoraltheologische Abhandlung zurückzuführen auf unseres Vaters vorherrschend praktisch–kirchliche
Geistesrichtung, die ihm Zeit seines Lebens eigen war. In seiner öffentlichen Wirksamkeit nicht minder wie in seiner literarischen Tätigkeit waren es praktisch-religiöse Interessen, die ihn jederzeit leiteten und bestimmten. Zu deren grundlegender Förderung war nichts geeigneter als eine bewußte Hebung des Priesterstandes, in dessen Händen vor allem die Pflege jener ethisch-religiösen Interessen gelegen war. Daß dementsprechend den Heiligen, den späteren Hauptprediger von Antiochien und Patriarchen von Konstantinopel, in seinem unbegrenzten Eifer, als wahrhaftiger Anwalt und Streiter für ein durchaus praktisches Christentum aufzutreten, schon frühzeitig, wohl bereits als Diakon, die Abfassung der Abhandlung „Über das Priestertum" beschäftigte, kann uns also eigentlich nicht wundernehmen. Ist doch dieselbe, wie auf den ersten Blick ersichtlich ist, ganz und gar nicht von theoretisch-dogmatischen, sondern vielmehr von praktisch-ethischen, religiös-moralischen Gesichtspunkten aus geschrieben und beherrscht.
Wir, bzw. die Priester jener Zeit, erhalten deshalb in ausgiebigem Maße immer und immer wieder Aufschluß über die Eigenschaften, die zur richtigen Verwaltung des Priester- und Bischofsamtes notwendig sind44. Chrysostomus verlangt S. 93 hierzu eine lange Reihe moralischer und intellektueller Fähigkeiten (II, 1-6; III, 10-16; VI, 4. 8. 9). Namentlich wird besonderes Gewicht gelegt, wie es bei dem Goldmund nicht anders zu erwarten ist, auf die Gabe der Beredsamkeit, die, wenn sie auch neben anderen Eigenschaften mit Schönheit und Anmut gepaart sein soll, doch vor allem auf ethischer Basis fundiert sein muß (IV, 3—9; V, 1—8). Sämtliche Erfordernisse sind aufs tiefste begründet einmal in der Erhabenheit des Priestertums, die höher zu werten ist als die des Königtums, ja höher als die Würde der Engel (III, 1. 4. 5. 6), sodann in den verschiedenen, den Priestern zukommenden Machtbefugnissen, wie in der Vollmacht, das eucharistische Opfer darzubringen (III, 4; VI, 4) und die übrigen Sakramente zu spenden (III, 5. 6), überhaupt ein heiliges Mittleramt auszuüben zwischen Gott und der gesamten Menschheit (VI, 4), schließlich in den ungeheuren mannigfaltigsten Schwierigkeiten, welche die Verwaltung des priesterlichen bzw. bischöflichen Berufes mit sich bringt (III, 9.16.17; VI, 2. 3. 8. 9). Chrysostomus geht dabei im speziellen auch auf einzelne Aufgaben und Pflichten ein, die dem Priester bzw. Bischof obliegen, so z. B. auf die Pflicht, die Sünder zu retten und die vom Glauben Abgefallenen wieder zur Einheit der Kirche zurückzuführen (II, 2—4), insbesondere auf die dem Bischof zufallende Aufsicht über die Witwen, die Sorge für die Jungfrauen und die Ausübung des Schiedsrichteramtes (III, 16. 17). Infolgedessen trifft den Priester eine ungeheure Verantwortlichkeit (VI, 9—11), woraus resultiert, einerseits daß für jedermann vor Übernahme eines geistlichen Amtes strenge Selbstprüfung notwendig ist, ob er tatsächlich all den mannigfaltigen Erfordernissen sich gewachsen fühlt (II, 7.8; III, 10; IV, 1. 2), anderseits daß eine gewissen- S. 94 hafte, sachlich begründete Auswahl getroffen werden muß von Seiten derer, welche die Kirchenämter zu vergeben haben (III, 10.15.16; IV, 1.2; VI, 8. 9).
Kein Wunder, daß bei der Betrachtung des hiermit im Wesentlichen skizzierten Inhaltes unserer Schrift schon der älteste, bekannteste Kritiker derselben, Isidor von Pelusium, noch in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts gerade ihren pastoraltheologischen Charakter hervorhob, indem er den Brief, vermittelst dessen er dem Eustathius den Chrysostomus-Dialog übersandte, mit den Worten schloß, daß in demselben sowohl die Priester, welche auf eine Gott wohlgefällige Weise ihren Verpflichtungen nachkommen, ihre glücklich errungenen Erfolge, als auch jene Priester, die ihr heiliges Amt leichtsinnig verrichten, ihre Nachlässigkeiten aufgezeichnet finden45.
Daneben bietet uns Chrysostomus im Verlaufe seiner Ausführungen in so manche innerkirchliche Verhältnisse seiner Zeit und in die religiös-sittlichen Zustände der einzelnen Kirchengemeinden in bezug auf das Verhalten der Priester, Jungfrauen, Witwen, auf das nicht immer einwandfreie Vorgehen der maßgebenden Kreise bei den Bischofswahlen usw. höchst interessante und instruktive Einblicke, denen außerordentlicher kirchenhistorischer Wert für die allgemeine Beurteilung jener Epoche nicht abgesprochen werden kann.
Außer dem Priestertume spielt in den Darlegungen des Heiligen eine hervorragende Rolle das Einsiedler- und Mönchsleben. Es konnte nicht ausbleiben, daß beide Richtungen nebeneinander in Parallele gesetzt und miteinander verglichen wurden (VI, 1—8). Chrysostomus weicht keineswegs dem Problem aus, welcher Kategorie der Vorzug gebühre, und er steht nicht an, diesen Vorzug dem in der Welt tätig wirkenden Priestertume zuzusprechen. Denn, sagt er, die Kämpfe des Einsiedlers sind wesentlich durch den körperlichen Organismus bedingt. Ist dieser nicht kräftig, so müssen die aszetischen Übungen unterbleiben. Die Tugenden dagegen, deren der Priester bedarf, sind un- S. 95 abhängig von seiner körperlichen Beschaffenheit. Es ist die Seele, welche sie vollbringt. Auch ist das Leben in der Zurückgezogenheit, wie achtungswert es auch immer sein mag, doch keineswegs ein Beweis vollkommener Tapferkeit. Denn der Mönch bleibt nur deshalb von vielen und schweren Sünden frei, weil der äußere Anlaß zu denselben fehlt. Nur wenn er, mitten in der Welt ihren Versuchungen ausgesetzt, fest geblieben wäre, dann hätte er eine ausreichende Bewährung seiner Tapferkeit bewiesen. Aber das Einsiedlerleben bietet wenig Bürgschaft dafür, daß dort die Tugend erworben wird, deren das öffentliche Leben bedarf. Daher kommt es, daß die Mehrzahl derer, die aus jenem in das priesterliche Amt übertreten, hier beschämt wird und den Mut sinken läßt; weit davon entfernt, in der Tugend zu wachsen, verlieren sie noch, was sie von derselben besaßen. Dagegen bewährt sich im Priestertum durchaus und nach jeder Richtung hin der sittliche Charakter.
Da nun trotz dieser ungleich höheren Wertschätzung des Priestertums, die noch durch eine Reihe anderer Momente begründet wird, Chrysostomus dasselbe geflohen hatte und eher geneigt war, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, lag für Basilius die Frage nahe, ob es denn eine zulässige Lebensgestaltung sei, für das eigene Seelenheil zu sorgen, aber für das Heil der Brüder nichts zu wirken, ob jemand, der einen solchen Lebensweg gewählt, auf die ewige Seligkeit hoffen dürfe. Und da gibt Chrysostomus die verblüffende Antwort: „Auch ich selber kann nicht glauben, daß der selig zu werden vermag, der sich gar nicht um das Heil seines Nächsten bemüht“ (VI, 10).
Dieses für ihn selbst niederschmetternde Bewußtsein ist zugleich das Zugeständnis, daß er das Problem, hie Priestertum, hie Mönchtum, in vorliegender Schrift nicht vollständig nach allen seinen Konsequenzen zu lösen vermochte und daß er über das Verhältnis beider sich noch nicht zur vollen Klarheit durchgerungen hatte. Denn der gebotene Lösungsversuch, daß ihn wohl eine gelindere Strafe treffen werde, wenn ihm nur der Vorwurf gemacht werden könne, daß er nicht andere gerettet habe, als wenn er sich selbst und andere zugleich S. 96 ins Verderben gestürzt hätte, vermag nicht ganz zu befriedigen. Aus den Ausführungen unseres Vaters geht aber auch hervor, daß zu seiner Zeit dem aszetischen Mönchsleben der beschaulich-kontemplative Charakter vorherrschend, wenn nicht ausschließlich eigen war. Eine zugleich praktisch gerichtete und sozial wirkende Mönchs-Aszese, wie sie sich vor allem im Abendlande schon bald auf Grund der Regel des hl. Benediktus entwickelte, die als Arbeits- und Gebetsgemeinschaft einen wesentlichen Faktor für den Aufbau einer christlichen Kultur bildete, hätte manchen der von Chrysostomus geäußerten Schwierigkeiten und Bedenken den Boden entzogen.
Schon die hiermit gebotenen wenigen Andeutungen über den Inhalt und die Bedeutung unserer Schrift dürften genügen, um zu erkennen, wie wahr wieder der älteste Kritiker und Lobredner derselben, Isidor von Pelusium, gesprochen, wenn er schreibt: „Es gibt kein Herz, ich wiederhole, es gibt kein Herz, das nicht bei der Lektüre dieses Buches begeistert würde46.
Möge diese altehrwürdige, von lautem Enthusiasmus zeugende Anpreisung und Verheißung auch bei den modernen Lesern der folgenden sechs Bücher „Über das Priestertum“ sich erfüllen und zur vollen Wahrheit werden! Möge insbesondere den Priestern und Priesteramtskandidaten die fleißige Lektüre unserer vielgepriesenen Perle aus der Patristik jedesmal zur Quelle heiliger Begeisterung und lauterer Berufsfreude werden!
Dr. August Naegle,
o. ö. Univ.-Professor.
Wien 1908).
-
Cap. 129 (Migne, P. Lat. 23, 713). ↩
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Im einzelnen sind die Belege zusammengestellt bei Nairn S. XXXIII. XXXIV. ↩
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Epistol. lib. I, 156 (Migne, P. Gr. 78, 288). Die Stelle ist teilweise zitiert oben S. 4. ↩
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Epistol lib. II, 42 (Migne, ibid. 484): “γνἠσιον εἶναι Ἀττικσμόν.” Ebenso lib. V, 32 (Migne, ibid. 1348). ↩
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Lib. II, 42: “Λιβάνιος Ἰωάννῃ. Δεξάμενός σου τὸν λόγον τὸν πολὺν καὶ καλὸν, ἀνέγνων ἀνδράσι λόγων καὶ αὐτοῖς δημιουργοῖς , ὤν οὐδεἱς ἦν, ὃς οὐκ ἐπήδα τε καὶ ἐβόα καὶ πάντα ἔδρα τὰ τῶν ὲκπεπληγμένων.” Die Echtheit des Briefes ist eingehend gewürdigt bei A. Naegele, Chrysostomos und Libanios, S. 24—32, mit zahlreichen Literaturangaben. ↩
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Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, VII. Bd., 2. Teil, München 1913, S. 1225. ↩
-
Geschichte der griechischen Literatur (P. Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, I. Teil, 8. Abt., Berlin 1905), S. 212. Vgl. noch Bardenhewer, Altkirchl. L. G. III, 353; Cognet, S, 68. ↩
-
Bd. II, S. 550ff. ↩
-
Norden, Die antike Kunstprosa, Bd. II, S. 571. ↩
-
S. Jean Chrysostome, S. 25. ↩
-
S. XXXII. ↩
-
Epist. lib. I, 156 (Migne, P. Gr. 78, 288). Siehe oben S. 4. Isidor fügt noch weiter bei, daß Chrysostomus die Schrift „λεπτῶς καὶ πυκνῶς ἐξηκρίβωσεν“. ↩
-
Lexikon, ed. G. Bernhardy, Bd. I, 1023, Halis 1843: „Οὖτος [Ἰωάννης] πολλἀ συγγρἀφαι λέγεται, ἀφ΄ ὦν οἱ περὶ ἱερωσύνης ὑπερβάλλουσι λόγοι τῷ τε ὕψει καὶ τῇ φράσει καὶ τῇ λειότητι καὶ τῷ κάλλει τῶν ὀνομάτων.“ ↩
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Lipsiae 1834, Praefatio, S. IX. ↩
-
S. Jean Chrysostome, 5. édition, Paris 1913, S. 25: „Oeuvre, où Chrysostome atteint son équilibre et sa maturité.“ ↩
-
Bd. I, S. 103. ↩
-
S. 63. 67. ↩
-
Geist der altchristlichen Literatur im vierten Jahrhundert von Villemain. Aus dem Französischen übersetzt von J. Köhler, Regensburg 1855, S. 74, 75. ↩
-
Patrologie, 2. Auflage, S. 294 und Wetzer und Welte, Kirchenlexikon, 2. Auflage, Bd. VI, S. 1624. ↩
-
Theologische Studien und Kritiken, Bd. 63, S. 303. ↩
-
Über die Beredsamkeit des Heiligen überhaupt siehe besonders die methodisch vorgehende, an sich sehr verdienstvolle, aber nicht tiefer grabende systematische Darstellung „Die Beredsamkeit des hl. Johannes Chrysostomus von L. Ackermann, Würzburg 1889“. Weitere einschlägige Literatur bei Chr. Baur, S. 250—257. ↩
-
Die griechische und lateinische Literatur und Sprache (P» Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, I. Teil, 8, Abt., Berlin 1905), S. 257. ↩
-
Siehe Hasselbach, S. XXXV. ↩
-
H. Kihn, Patrologie, Bd. II, S. 223; J. Alzog, Grundriß der Patrologie, 4. Aufl., S. 318. ↩
-
So bemerkt auch Montfaucon in seiner Praefatio: „Unurm fortasse erit, quod in oratore nostro reprehendas; troporum nempe ac similitudinum frequentiam, qua ad nauseam usque redundat oratio. Sed id vitii aevo potius Chrysostomi quam Chrysostomo adscribas.“ (Migne, P. Gr. 47, VIII.) ↩
-
Auch Chrys. Baur spricht von den „fast ermüdenden Ausführlichkeiten“ (Bibliothek d. Kirchenväter, Bd. 23, S, XLIII). ↩
-
Siehe hierzu die Bemerkungen von Cognet, S. 81 und Nairn, S. XXXIII, Anm. 1: „The similes in VI, 12 are probably too elaborate and highly coloured for the taste of most modern readers.„ ↩
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Siehe hierzu die trefflichen Ausführungen von H. Jakoby, Die praktische Theologie in der alten Kirche (Theolog. Studien und Kritiken, Bd. 63, Gotha 1869), S. 295, 296. ↩
-
Migne, P. Gr. 85, 407 ff. ↩
-
Siehe z. B. die Zusammenstellung bei Jakoby, S. 301—-305; Wohlenberg, S. 14. 15; Cognet, S. 51—58; Nairn, S. XXX. ↩
-
Bardenhewer, Altkirchl. L. G., Bd. III, S. 171. ↩
-
Siehe hierzu Jakoby, S. 397; Cognet, S. 53; Wohlenberg, S. 17. ↩
-
Bardenhewer, Altkirchl. L, G., Bd. III, S. 171. 173. ↩
-
Bardenhewer, ebendort S. 178. ↩
-
Norden, Antike Kunstprosa, Bd. II, S. 563. ↩
-
Ebendort S. 565. ↩
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Jakoby, S. 301. 303. ↩
-
Migne, P. Lat. 77, 13 ff. ↩
-
Pars III, prologus (Migne, P. Lat. 77, 49): „Ut enim longe ante nos reverendae memoriae Gregorius Nazianzenus edoouit.“ ↩
-
Pars. I, 1 (Migne, P. Lat. 77, 14). ↩
-
Cap. 16 (Migne, P. Gr. 35, 426): „Ars quaedam artium et scientia scientiarum mihi esse videtur hominem regere.“ Weitere Identifizierungen der Benutzung der Apologie des Nazianzeners durch Gregor den Großen sind zu finden in der Benediktiner-Ausgabe der Regula pastoralis, Lipsiae 1873, passim in den Anmerkungen. Siehe ferner die Bemerkungen bei Wohlenberg, S. 14; Cognet, S. 62; Jordan, S. 344; Migne, P. Lat. 77, 10, Praefatio; Migne, P. Gr. 35, 406, Praefatio: „Ista enim apolo-getica oratio (Greg. Naz.) tam eximium opus est, ut dignum sit, ex quo Gregorius Magnus multa excerpsisse videatur.“ ↩
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Siehe Jordan, S. 344 und die Identifizierungen bei Cognet, S. 62; Nairn, S. XXXI und 33. — Einer Ausgabe des Chrysostomus-Dialogs „De sacerdotio" ist auch die Regula pastoralis Gregors d. Gr. beigedruckt, Parisiis 1867. (Siehe Baur, S. Jean Chrysostome, S. 181.) ↩
-
F. u. P. Böhringer, Die Kirche Christi und ihre Zeugen, Bd. IX², S. 29; Migne, P. Gr. 35, 406: „Opera de sacerdotio in suo quaeque genere egregia trias illa Patrum elaboravit.“ ↩
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Die diesbezüglichen Darlegungen des hl. Chrysostomus haben im Laufe der Zeit wiederholt Veranlassung gegeben zu Versuchen einer systematischen Zusammenfassung seiner gesamten Lehre über das Priestertum. Um von älteren Arbeiten zu schweigen, seien hier genannt: G. A. Hoff, Du sacerdoce chrétien d'après S. Chrysostome, Strassbourg 1851; A. Monchatre, Étude sur le traité du Sacerdoce de Chrysostome, Montauban 1859; B. Dieckhoff, Über den Beruf und die Vorbereitung zum geistlichen Stande, Vorlesungen mit besonderer Rücksicht auf des hl. Chrysostomus Schrift De Sacerdotio, herausgegeben von G. Dieckhoff, Paderborn 1859; A. Cognet, De Joannis Chrysostomi dialogo, qui inscribitur „περὶ ἱερωσύνης“, Paris 1900, Caput III et IV; Dr. Menn, Zur Lehre des hl. Johannes Chrysostomus über das geistliche Amt (Revue internationale de Théologie, t. XIII [1905], S. 87-102, 308—321); Fr. Waldhör, Der Idealpriester nach Chrysostomus (Studien und Mitteilungen aus dem Kirchengeschichtl. Seminar der theolog. Fakultät der k. k. Universität in Wien, Bd. I, ↩
-
Epistol I, 156 (Migne, P. Gr. 78, 288). ↩
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Ebendort: „Οὐ γὰρ ἐστιν, οὐκ ἐστι, καρδία, ἣν ἐπῆλθεν ἡ ταύτης ἀνάγνωσις καὶ πρὸς τὸν θεῖον αὐτήν οὐκ ἔτρωσεν ἔρωτα.“ ↩