7.
Aber gleichwohl hat Gott ihre Berufung nicht ganz und gar fallen gelassen, sondern er wartet die Zeit ab, bis alle Heiden, die willens sein werden, zu glauben, zum Glauben gelangt sein werden; dann werden auch die Juden dazu kommen. Hierauf sagt ihnen der Apostel noch etwas anderes zu Gefallen: „In Hinsicht auf die S. d114 Tatsache ihrer Auserwählung dagegen sind sie Gottes Lieblinge um der Väter willen.“ Was soll das heißen? Sind sie einmal Gottes Feinde, dann bleibt ihnen die Strafe nicht aus; sind sie aber seine Lieblinge, dann nützt ihnen auch die Tugend ihrer Vorfahren nichts, wenn sie nicht glauben. Aber immerhin sind es tröstliche Worte, die da der Apostel, wie ich schon sagte, zu den Juden spricht, um sie für sich zu gewinnen. Darum bekräftigt der Apostel das vorher Gesagte noch von einer andern Seite her und spricht:
V. 30: „Denn geradeso wie ihr einstmals Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber sein Erbarmen erfahren habt infolge ihres Ungehorsams“,
V. 31: „so sind nun auch sie ungehorsam geworden infolge des (göttlichen) Erbarmens gegen euch, damit auch sie sein Erbarmen erführen“;
V. 32: „denn Gott hat alle in Ungehorsam verstrickt, damit er allen sein Erbarmen erweise.“
— Hier weist der Apostel darauf hin, daß die Heiden zuerst berufen gewesen, und dann erst, als sie nicht wollten, die Juden auserwählt worden seien, und daß sich dasselbe nachher wiederholt habe. Denn erst, als die Juden nicht glauben wollten, kam Gott wieder zurück auf die heidnischen Völker. Aber dabei bleibt der Apostel nicht stehen. Er läßt die ganze (Heilsgeschichte) nicht auf die Verwerfung der Juden hinauslaufen, sondern gibt ihr eine solche Wendung, daß diese wieder das Erbarmen (Gottes) erfahren. Sieh, wieviel er den Heiden einräumt! Ebensoviel hat er früher den Juden eingeräumt. Als ihr, die ihr einstmals Heiden waret, spricht er, euch ungehorsam gegen Gott zeigtet, da kamen die Juden an die Reihe; als aber wieder diese ungehorsam waren, kamet ihr daran. Die Juden sind aber nicht endgiltig verloren. „Gott hat sie alle in Ungehorsam verstrickt“, d. h. er hat zugelassen, daß sie sich als ungehorsam erwiesen, nicht damit sie ungehorsam blieben, sondern um die einen durch die Eifersucht auf die andern zu retten: die Juden durch die Heiden und die Heiden durch die Juden. Sieh nur: Ihr waret S. d115 ungehorsam, und die Juden sind gerettet worden; dann waren wieder diese ungehorsam, und ihr wurdet gerettet. Aber nicht dazu seid ihr gerettet worden, daß ihr auch wieder abtrünnig werdet wie die Juden, sondern daß ihr durch euren anhaltenden Eifer diese wieder heranzieht.
V. 33: „O welch eine Tiefe von Reichtum und Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Gerichte!“
Nachdem der Apostel zurückgegangen ist in die Vergangenheit und das Walten Gottes betrachtet hat, angefangen von der Schöpfung des Weltalls bis auf die Gegenwart, und erwogen hat, wie mannigfaltig er alles geordnet hat, bricht er hier in einen Ruf des Staunens aus, um seine Zuhörer in der Überzeugung zu bekräftigen, daß alles so geschehen werde, wie er es gesagt hat. Denn in einen solchen Ruf des Erstaunens hätte er nicht ausbrechen können, wenn er nicht voraus gewußt hätte, daß dies alles so geschehen werde. Daß eine Tiefe (in Gott) da ist, weiß er; wie groß sie ist, weiß er nicht. Denn er spricht wie einer, der staunt, nicht wie einer, der das Ganze durchschaut. Hingerissen von Staunen über die Güte Gottes, feiert er dieselbe mit zwei großen Worten, die ihm zu Gebote stehen: „Reichtum“ und „Tiefe“. Sein Staunen ist hervorgerufen (durch die Wahrnehmung), daß Gott so große Dinge will und auch vermag und daß er sie dadurch durchführt, daß er das Gegenteilige geschehen läßt. „Wie unerforschlich sind seine Gerichte!“ Nicht nur unbegreiflich, sondern auch unergründlich.
„Und unerforschlich seine Wege!“
d. h. seine Fügungen. Sie sind nicht bloß unbegreiflich, sondern können auch nicht ausgeforscht werden. Auch ich, will der Apostel sagen, habe nicht alles gefunden, sondern nur einen kleinen Teil, keineswegs das Ganze. Gott allein durchblickt das, was er tut, genau. Darum fährt der Apostel fort:
„Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt?“
V. 34: „Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ S. d116
V. 35: „Oder wer hat ihm zuvor gegeben, daß ihm wieder vergolten wurde?“
Der Sinn dieser Worte ist folgender: Gott ist so weise, und zwar ist er es nicht durch einen andern, sondern er ist selbst die Quelle des Guten. Auch die Macht dazu, daß er so Großes getan und uns so große Wohltaten erwiesen, hat er sich nicht von einem andern geliehen, sondern sie ist ihm von Hause aus eigen. Er ist niemandem eine Wiedervergeltung schuldig, als ob er etwas von ihm bekommen hätte, sondern er ist selbst der Urgrund aller Wohltaten. Das ist ja das hauptsächlichste Kennzeichen des Reichtums, alles im Überfluß zu besitzen und eines andern nicht zu bedürfen. Darum heißt es weiter:
„Von ihm und in ihm und durch ihn sind alle Dinge.“
— Er hat sie erdacht, er hat sie erschaffen, er erhält sie; denn er ist reich und hat nicht nötig, von einem andern zu empfangen. Er ist weise und bedarf keines Ratgebers. Was sag’ ich eines Ratgebers. Es kann ja gar niemand wissen, was alles sein ist, als er allein, der Reiche, der Weise. Ein Beweis großen Reichtums ist es, daß er die Heiden so reich gemacht hat, und ein Beweis großer Weisheit ist es, daß er Leute, die tief unter den Juden standen, zu deren Lehrern gemacht hat.
Auf den Ausdruck des Staunens folgt ein Dankgebet des Apostels:
„ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.“
— So oft er etwas Großes und Geheimnisvolles ausspricht, geht sein Staunen in einen Lobpreis aus. So macht er es auch, wenn er vom Sohne Gottes spricht. Auch da drückt er sein Staunen aus und fährt dann fort wie hier: „Von welchem Christus stammt dem Fleische nach, der da Gott ist über alles, hochgelobt in Ewigkeit. Amen“ 1.
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Röm. 9, 5. ↩