1.
Kap. XV, V. 25—33 und Kap. XVI, V. 1—5.
V. 25: „Jetzt aber reise ich nach Jerusalem, den (dortigen) Heiligen einen Dienst zu leisten.“
V. 26: „Mazedonien und Achaja haben es nämlich für gut befunden, eine Sammlung zu veranstalten zu Gunsten der Armen unter den Heiligen in Jerusalem.“
V. 27: „Sie haben es für gut befunden und sind es ihnen eigentlich auch schuldig.“
Der Apostel hat gesagt: „Ich habe kein Arbeitsfeld mehr in diesen Himmelsstrichen und habe Sehnsucht seit vielen Jahren, zu euch zu kommen“; er zögert aber noch damit. Auf daß nun die Römer nicht zur Meinung kommen, er habe sie zum besten, nennt er auch die Ursache, warum er seinen Besuch noch verschiebt, und sagt: „Ich reise nach Jerusalem.“ Er scheint damit zunächst nur den Grund dieses Aufschubes anzugeben; in Wirklichkeit hat er dabei noch eine andere Absicht. Er will die Römer aufmuntern, ein Almosen zu geben und sie recht bereitwillig dazu machen. Denn wenn er nicht dies hätte erreichen wollen, hatte es genügt zu sagen: „Ich reise nach Jerusalem“; nun gibt er aber auch den Grund seiner Reise an: „Ich reise“, sagt er, „den (dortigen) Heiligen einen Dienst zu leisten.“ Er widmet der Sache noch einige Worte mehr und begründet sie, indem er sagt, daß dies eine Schuldigkeit sei:
„Denn wenn sie die Heiden haben teilnehmen lassen an ihren geistigen Schätzen, sind diese schuldig, ihnen einen Dienst zu erweisen mit ihren leiblichen Gütern.“
Die Römer sollten daraus die Lehre ziehen, es ebenso zu machen. Dabei ist besonders die Weisheit des Paulus bewundernswert, die diese Form, den Römern dies zu raten, ausgedacht hat; denn so ließen sie sich es eher gefallen, als wenn er in Form einer Ermahnung gespro- S. d260 chen hätte. Es wäre ihnen auch als eine Beleidigung vorgekommen, wenn er ihnen die Korinther und die Mazedonier als Beispiel angeführt hätte. Die Korinther freilich ermahnt er in dieser Form; er spricht: „Ich setze euch aber in Kenntnis von der Gnade Gottes, die den Kirchengemeinden in Mazedonien zuteil geworden ist“ 1. Die Mazedonier wieder ermahnt er vermittelst der Korinther. „Euer Eifer“, sagt er, „hat viele angeregt“ 2. Die Galater benützt er gleichfalls als Beispiel zu einer Mahnung, wenn er sagt: „Wie ich es in den Kirchengemeinden von Galatien angeordnet habe, so macht auch ihr es!“ 3 Mit den Römern spricht er nicht so, sondern kommt ihnen mehr auf Umwegen bei. Ebenso macht er es mit Bezug auf die Verkündigung des Evangeliums, wenn er sagt: „Oder hat etwa von euch das Wort Gottes seinen Ausgang genommen? Oder ist es zu euch allein gelangt?“ 4 Nichts wirkt so kräftig wie der Wetteifer; darum nimmt ihn der Apostel oft in seinen Dienst. So sagt er auch an einer andern Stelle: „Wie ich in allen Kirchengemeinden es angeordnet habe“ 5, und wieder: „Wie ich es in allen Kirchengemeinden lehre“ 6. Zu den Kolossern spricht er: „Das Evangelium bringt seine Frucht und entfaltet sich in der ganzen Welt“ 7. Denselben Kunstgriff wendet er hier an betreffs des Almosens. — Beachte auch, wie gewichtige Ausdrücke der Apostel gebraucht! Er sagt nicht: „Ich reise, um ihnen ein Almosen zu bringen“, sondern: „um ihnen einen Dienst zu leisten“. Wenn aber Paulus einen Dienst leistet, dann beachte, wie schwerwiegend die Sache, um die es sich handelt, sein muß, wenn der Lehrer des Erdkreises sie zur Besorgung übernimmt, und wenn ihr Paulus, im Begriffe, eine Reise zu unternehmen und obwohl er sich nach den Römern sehnt, doch den Vorzug gibt!
„Mazedonien und Achaja haben es für gut befunden“, — d. h. haben sich bereit erklärt, haben den S. d261 Wunsch ausgesprochen, — „eine Sammlung zu veranstalten.“ Wieder sagt er nicht: „ein Almosen zu geben“, sondern: „eine Sammlung zu veranstalten“. Aber auch das Wörtchen „eine“ setzt er nicht ohne Grund her, sondern damit es nicht den Anschein gewinne, als wolle er den Römern einen leisen Vorwurf machen. Auch sagt er nicht einfach: „zu Gunsten der Armen“, sondern: „zu Gunsten der Armen unter den Heiligen“. Darin liegt eine doppelte Empfehlung, eine solche von Seiten ihrer Tugend und eine von Seiten ihrer Armut. Und auch daran läßt es sich der Apostel noch nicht genügen, sondern er fährt fort: „Sie sind es ihnen schuldig.“ Dann zeigt er, wieso sie es ihnen schuldig sind. „Denn wenn sie“, sagt er, „die Heiden haben teilnehmen lassen an ihren geistigen Schätzen, sind diese schuldig, ihnen einen Dienst zu erweisen mit ihren leiblichen Gütern.“ Der Sinn dieser Stelle ist folgender: Der Juden wegen ist Christus gekommen, alle Verheißungen galten den Juden, aus ihrer Mitte ging Christus hervor; darum heißt es auch: „Von den Juden kommt das Heil“ 8. Aus ihnen sind die Apostel hervorgegangen, aus ihnen die Propheten, von ihnen ist alles Heil gekommen. An allen diesen guten Dingen hat der ganze Erdkreis teilgenommen. Wenn ihr also, will der Apostel sagen, an diesen größeren Dingen teilgenommen habt, wenn ihr zu dem Mahl gekommen seid, das ihnen zubereitet war, und von den vorgesetzten Gerichten genossen habt — nach der Parabel des Evangeliums —, so seid ihr schuldig, jene an euren leiblichen Gütern teilnehmen zu lassen und ihnen davon mitzuteilen. Und da sagt der Apostel nicht: „teilnehmen zu lassen“, sondern: „einen Dienst zu erweisen“; er reiht sie dadurch den Dienstleuten ein, solchen, die den Königen Abgaben entrichten. Er sagt auch nicht: „mit euren leiblichen Gütern“, wie er gesagt hat: „an ihren geistigen Schätzen“; denn die geistigen Schätze der Juden gehörten ihnen allein, die leiblichen Güter der Heiden dagegen gehören nicht ihnen allein, sondern sind gemeinsames Eigentum aller; der Apostel S. d262 will nämlich haben, daß das irdische Vermögen allen gehöre, nicht den Besitzern allein. V. 28: „Wenn ich dies werde zu Ende geführt und diese Frucht für sie werde in Sicherheit gebracht haben“,
d. h. wenn ich sie gleichsam in königliche Schatzkammern, in einem Versteck, an einem sicheren Orte werde untergebracht haben. Er sagt nicht: „das Almosen“, sondern: „die Frucht“; er will damit ausdrücken, daß dabei diejenigen einen Gewinn haben, welche sie geben.
„Dann werde ich auf dem Wege über euch nach Spanien reisen.“
Wieder erwähnt er Spanien und will damit seine Bereitwilligkeit und seine brennende Sehnsucht nach den Christen jenes Landes zum Ausdruck bringen.
V. 29: „Ich weiß aber, daß ich, wenn ich überhaupt zu euch komme, in der Fülle des Segens des Evangeliums Christi kommen werde.“
— Was heißt in der Fülle des Segens“? Entweder meint der Apostel damit (gesammeltes) Geld oder einfach alle guten Werke. „Segen“ pflegt er nämlich öfter das Almosen zu nennen, so z. B. wenn er sagt: „so wie ein Segen und nicht wie eine dem Geiz abgerungene Gabe“ 9. So pflegte man von alters her das Almosen zu nennen. Weil der Apostel aber hier hinzusetzt: „des Evangeliums“, darum meinen wir, daß er das Wort „Segen“ nicht bloß für Geld gebraucht, sondern für heilvolle Dinge überhaupt. Er will etwa sagen: „Ich weiß, daß ich bei meinem Kommen bei euch alles in bestem Zustande, das Gute in voller Blüte treffen werde und euch selbst betreffs des Evangeliums tausendfachen Lobes würdig. Bewundernswert ist auch die Form, in die er da den Rat, sich so zu halten, kleidet; er spendet ihnen im voraus das Lob dafür. Wenn der Apostel es nicht für angezeigt hält, die Form der Ermahnung anzuwenden, kommt er auf diese Form der Zurechtweisung. S. d263 V. 30 und 31: „Ich bitte euch aber bei unserem Herrn Jesus Christus und der Liebe des (Hl.) Geistes …“