4.
Warum, fragst du, wurden aber dann die Sünder bestraft, wenn die Herrschaft der Sünde vor der Gnade eine so überwältigende war? — Weil ihnen nur solche Gebote gegeben waren, die sie auch unter der Herrschaft der Sünde halten konnten. Das alte Gesetz führte die Juden nicht auf die Höhe der sittlichen Vollkommenheit. Es erlaubte ihnen, den Reichtum zu genießen, es verbot ihnen nicht, mehrere Weiber zu haben, sich einem gerechten Zorne zu überlassen, der Gaumenlust S. b249 mit Maß zu fröhnen. Ja so groß war die Herabminderung (der Pflichten), daß das geschriebene Gesetz sogar weniger forderte, als das natürliche Gesetz vorschrieb. So gebot das natürliche Gesetz, daß ein Mann immer nur mit einer Frau verkehre. Das brachte auch Christus, zum Ausdruck, wenn er sprach: „Der sie im Anfange geschaffen, hat sie als Mann und Weib geschaffen“ 1. Das Gesetz des Moses dagegen verbot weder, die eine fortzuschicken und eine andere zu nehmen, noch auch zwei zugleich zu haben. Außerdem ließen sich noch mehrere andere Punkte anführen, in welchen die Jünger des natürlichen Gesetzes denen des mosaischen Gesetzes voraus waren. Die Menschen im Alten Bunde waren also nicht im Nachteile, da sie ja eine so milde Gesetzgebung hatten. Wenn sie nun auch da noch nicht Sieger über das Böse zu bleiben vermochten, so lag die Schuld an ihrer Lässigkeit. Darum sagt Paulus dafür Dank, daß Christus uns darüber nicht zur Rechenschaft zieht und nicht nur keine entsprechende Vergeltung fordert, sondern uns sogar zu einer noch höheren Laufbahn fähig macht. Darum sagt er: „Ich danke Gott durch Jesus Christus.“
Nun bricht der Apostel seine Rede über das Heil, als (von seinen Hörern) zugegeben, ab und geht von dem bisher Bewiesenen aus einen Schritt weiter; er spricht davon, daß wir nicht allein von den Übeln der Vergangenheit befreit, sondern auch gegen die der Zukunft gefeit seien.
Kap. VIII, V. 1: „Es gibt also keine Verdammung mehr für die, welche in Christus Jesus sind und nicht nach dem Fleische wandeln.“
— Das sagt der Apostel aber erst, nachdem er wieder unsern früheren Zustand in Erinnerung gebracht hat. Unmittelbar vorher hat er gesagt: „Also diene ich selbst mit dem Geiste dem Gesetze Gottes, mit dem Fleische dem Gesetze der Sünde.“ Nun fährt er fort: „Es gibt also keine Verdammung mehr für die, welche in Christus Jesus sind.“ Weil ihm aber gleich einfällt, daß viele auch nach der Taufe sündigen, so berührt er auch das, S. b250 indem er nicht einfach sagt; „für die, welche in Christus Jesus sind“, sondern fügt hinzu: „und nicht nach dem Fleische wandeln“. Damit gibt er zu verstehen, daß alles Weitere von unserer Fahrlässigkeit herkomme. Denn jetzt ist es möglich, nicht nach dem Fleische zu wandeln, vorher aber war es schwierig. — Dasselbe beweist er dann in einer andern Weise, indem er fortfährt:
V. 2: „Denn das Gesetz des lebenspendenden Geistes hat mich befreit.“
— „Gesetz des Geistes“ nennt der Apostel hier den Hl. Geist 2. So wie er „Gesetz der Sünde“ die Sünde genannt hat, so nennt er „Gesetz des Geistes“ den Hl. Geist. Gleichwohl hat er auch das Gesetz des Moses so genannt, wo er sagt: „Wir wissen ja, daß das Gesetz geistig ist.“ Was ist nun für ein Unterschied? Es besteht ein großer, unermeßlicher. Denn das eine Gesetz ist „geistig“, das andere „des Geistes“. Worin unterscheidet sich nun das eine vom andern? Dadurch, daß das eine Gesetz bloß vom Hl. Geiste gegeben war, das andere aber denen, die es annehmen, den Hl. Geist selbst in reichem Maße mitteilt. Darum nennt er es auch „lebenspendendes Gesetz“ im Gegensatz zum Gesetz der Sünde, nicht zum mosaischen Gesetz. Wenn er nämlich sagt: „Es hat mich befreit vom Gesetz der Sünde und des Todes“, so meint er damit nicht das Gesetz des Moses; denn nirgends nennt er dieses ein Gesetz der Sünde. Wie reimte sich das auch damit, daß er es oft „gerecht“ und „heilig“ und „sündentilgend“ nennt? Dagegen nennt er jenes „dem Gesetze der Vernunft widerstreitend“. Diesen schweren Krieg hat die Gnade des Hl. Geistes, welche der Sünde den Tod brachte, beendet. Sie hat uns den Kampf leicht gemacht; sie hat uns zuerst den Siegeslorbeer um die Stirne gewunden und dann erst unter ihrem starken Beistande auf den Kampfplatz geführt. — Dann geht der Apostel, wie er es immer tut, vom Sohne auf den Hl. Geist über S. b251 und vom Hl. Geist auf den Sohn und den Vater. Auf diese Weise führt er alles, was für uns geschehen ist, auf die Dreifaltigkeit zurück. In derselben Weise geht er auch hier vor. Nachdem er nämlich ausgerufen hat: .„Wer wird mich befreien von dem Leibe dieses Todes?“ zeigt er, daß dies der Vater tut durch den Sohn. Dann wieder erscheint der Hl. Geist neben dem Sohne: „Das Gesetz des lebenspendenden Geistes in Christus Jesus hast mich befreit“, heißt es. — Nun erscheint wieder der Vater und der Sohn in Tätigkeit:
V. 3: „Denn was dem Gesetze, weil durch das Fleisch ohnmächtig geworden, nicht möglich war, das hat Gott geleistet, indem er seinen Sohn sandte in der Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde: Er hat auf eine Sünde hin der Sünde im Fleische das Todesurteil gesprochen.“
— Wieder hat es den Anschein, als setze der Apostel das Gesetz herab. Wenn man aber genau zusieht, so hebt er es hoch empor, indem er zeigt, daß es sich in Übereinstimmung mit Christus befinde und vor ihm dasselbe vorschreibe wie er. Er sagt ja nicht, daß am Gesetze etwas Schlechtes war, sondern: „Was ihm nicht möglich war“, und weiter: „Es war ohnmächtig geworden“, nicht: „Es verführte zum Bösen“, oder: „Es legte eine Falle“. Auch legt er die Ohnmächtigkeit nicht dem Gesetze zur Last, sondern dem Fleische, wenn er sagt: „Ohnmächtig geworden durch das Fleisch.“ „Fleisch“ nennt er hier wieder nicht das Wesen des Fleisches, das, was zugrunde liegt, sondern die allzu fleischliche Sinnesart. Auf diese Weise spricht er sowohl den Leib als auch das Gesetz von Anklage frei. Das tut er nicht allein durch das bisher Gesagte, sondern auch im folgenden.