I.
10. Darum schreibe ich Dieses abwesend, damit ich nicht anwesend mit Strenge verfahren müsse gemäß der Gewalt, die der Herr mir gegeben hat zum Aufbauen und nicht zum Niederreissen.
Der Apostel fühlt, daß seine Rede zu streng geworden, zumal gegen das Ende des Schreibens. Denn schon früher sprach er: „Ich selbst aber, Paulus, ermahne euch bei der Sanftmuth und Milde Christi, der ich in’s Angesicht zwar demüthig bin unter euch, abwesend aber muthig gegen euch; — ich bitte aber, daß ich nicht anwesend muthig sein müsse mit der Zuversicht, mit der ich kühn aufzutreten gedenke wider Einige, die da wähnen, daß wir nach dem Fleische wandeln;“ und dann: „Indem wir uns bereit halten, jeglichen Ungehorsam zu strafen, sobald euer Gehorsam vollständig geworden ist;“ und wiederum: „Ich fürchte, ich könnte vielleicht, wenn ich komme, euch nicht so finden, wie ich wünsche, und auch von euch erfunden werden, wie ihr nicht wünscht;“ und ferner: „Daß nicht etwa, wenn ich komme, mein Gott mich demüthige euch gegenüber, und ich Viele betrauern müsse, die vorher gesündigt und nicht Buße gethan haben ob der Ausschweifung und Unzucht, die sie begangen haben;“ und endlich: „Ich habe es vorher gesagt und sage es wieder S. 472 wie bei der zweiten Anwesenheit und schreibe es jetzt auch abwesend, daß ich, wenn ich wieder komme, nicht schonen werde, da ihr ja nach einer Probe des in mir redenden Christus verlangt.“1 Nachdem er nun Dieses und mehreres dergleichen gesprochen, was Furcht und Beschämung erwecken, was als Vorwurf und Tadel empfunden werden mußte, so entschuldigt er sich nun für Alles insgesammt, indem er sagt: „Darum schreibe ich Dieses abwesend, damit ich nicht anwesend mit Strenge verfahren müsse.“ Ich wünsche, daß die Strenge im Schreiben beruhe und nicht im Handeln; ich wünsche, daß die Briefe eindringlich seien, damit sie Drohungen bleiben und nicht zur Verwirklichung kommen. Indeß mehrt er sogar mit dieser Entschuldigung wieder die Furcht, theils indem er aufmerksam macht, daß nicht er es ist, der im Begriffe stehe, zu strafen, sondern Gott; denn er fügt bei: „Gemäß der Gewalt, die der Herr mir gegeben hat;“ theils wiederum, indem er zeigt, daß er nicht darnach verlange, von dieser Gewalt zu ihrer Bestrafung Gebrauch zu machen. Denn er setzt hinzu: „Nicht zum Niederreissen, sondern zum Aufbauen.“ Und er weist zwar auf diesen Zweck jetzt hin, wie bemerkt, stellt es aber ihrer eigenen Erwägung anheim, ob nicht auch Das ein Aufbauen sei, Solche zu strafen, die im Zustande der Unbußfertigkeit bleiben. Und so ist es auch wirklich; und Das weiß auch der Apostel und ist in der Wirklichkeit darnach verfahren.
11. Übrigens, Brüder, freuet euch, vervollkommnet euch, ermuntert euch; seid eines Sinnes, haltet Frieden! Und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein.
Was soll das: „Übrigens, Brüder, freuet euch“? Du hast sie ja betrübt, erschreckt, in Angst versetzt; S. 473 hast sie mit Furcht und Zittern erfüllt; wie sollen sie sich nun freuen? Gerade darum sollen sie sich freuen. Denn wenn ihr das Eurige thut, wie ich das Meinige gethan habe, so steht Nichts mehr der Freude entgegen. Von meiner Seite ist Alles geschehen; ich habe langmüthig zugesehen und immer das Äusserste hinausgeschoben; ich habe nicht Bitten und Ermahnungen, nicht Schrecken und Drohungen gespart, um durch alle Mittel euch insgesammt zu heilsamer Sinnesänderung zu bewegen. Nun ist es an euch das Eurige zu thun; und so werdet ihr unverwelkliche Freude haben. „Vervollkommnet euch.“ Was heißt: „Vervollkommnet euch“? Werdet vollkommen, ergänzt, was noch fehlt! „Ermuntert euch!“ Da die Bedrängnisse viele und die Gefahren groß waren, so sagt Paulus: Ermuntert euch gegenseitig, laßt von uns euch ermuntern, schöpfet Trost aus der Besserung des Lebens. Denn erwächst euch aus dem eigenen Bewußtsein Freude, und steht ihr vollkommen da, so fehlt euch Nichts mehr zur Freudigkeit und zum Troste; denn Nichts gewährt in dem Maße Trost wie ein reines Gewissen, selbst in Mitte zahlloser Drangsale. — „Seid eines Sinnes, haltet Frieden!“ Um Dieses bittet der Apostel auch gleich im Anfange des ersten Briefes. Denn man kann auch eines Sinnes sein und nicht Frieden halten, wenn man nämlich in den Lehren des Glaubens übereinstimmt und in den sonstigen Dingen auseinander geht. Beides aber verlangt hier Paulus. — „Und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein.“ Hier nicht mehr bloß Mahnung und Rath, sondern auch Gebet. Denn entweder bittet Paulus darum, oder er sagt vorher, was geschehen wird; besser aber denkt man an Beides. Wenn ihr Dieses thut, will er sagen, wenn ihr eines Sinnes seid und Frieden haltet, so wird auch Gott mit euch sein; denn er ist der Gott der Liebe und des Friedens; daran hat er seine Freude, daran sein Wohlgefallen. Von daher kommt euch auch der Friede, von seiner Liebe; von daher die Aushebung aller Übel. Diese Liebe hat die Welt S. 474 erlöst, diese hat den ewigen Krieg verbannt, diese hat den Himmel mit der Erde verbunden, diese hat die Menschen zu Engeln gemacht. Diese wollen denn auch wir lieben, denn Mutter unzähliger Güter ist die Liebe. Durch sie haben wir das Heil erlangt, durch sie all die unaussprechlichen Güter. Zu dieser Liebe nun will Paulus die Seinigen erheben, wenn er sagt:
12. Grüßet einander in heiligem Kusse.
Warum denn „in heiligem“? Nicht in tückischem, nicht in arglistigem, nicht wie Judas den Herrn geküßt. Denn darum ist der Kuß gegeben, daß er Mittel zur Entzündung der Liebe werde, daß er die Zuneigung entflamme, daß wir so einander lieben wie der Bruder den Bruder, wie das Kind den Vater, wie der Vater das Kind; ja noch weit mehr; denn Jenes ist Sache der Natur, Dieses der Gnade. Auf diese Weise werden die Seelen mit einander verbunden. Darum pflegen wir uns auch bei der Heimkehr von einer Reise zu küssen, zum Ausdrucke, daß zum gegenseitigen äusseren Zusammensein auch die Seelen kommen. Denn dieß ist zunächst das Glied, das uns Kunde gibt von der Liebe der Seele.
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II. Kor. 10; 12; 13. ↩