II.
Von diesem heiligen Kusse ließe sich auch noch Weiteres sagen. Was wäre denn Dieses? Wir sind Tempel Christi; so küssen wir demnach Vorhalle und Eingang zum Tempel, wenn wir einander küssen. Oder seht ihr nicht, wie Viele sogar die Vorhalle dieses Tempels hier küssen, die Einen, indem sie sich niederbücken, die Anderen, indem sie mit der Hand den Boden berühren und sie dann zum Munde bringen? Und durch diese Pforten und Thüren ist Christus zu uns eingegangen und geht noch ferner ein, so oft wir seinen Leib empfangen. Ihr, die ihr Theil nehmt an den Geheimnissen, versteht, was ich sage. Denn keine gewöhnliche Ehre ist es für unsern Mund, daß er den Leib des Herrn empfängt. Das sollen Die hören, welche schändliche Reden führen, welche S. 475 Lästerungen ausstoßen; und sie mögen schaudern, was für einen Mund sie entweihen; Das sollen Die hören, welche unehrbar küssen! Höre, welche Aussprüche Gott durch deinen Mund1 gethan hat, und bewahre ihn vor Flecken rein. Er hat über das künftige Leben gesprochen, über Auferstehung, über Unsterblichkeit, daß der Tod nicht Tod ist, und über unzählige andere Geheimnisse. Denn wie zu einem Orakel naht sich dem Munde des Priesters Derjenige, der in die Geheimnisse soll eingeführt werden. Hören wir, was man nicht ohne Schaudern hören kann! Er hat sein Leben verloren seit alten Tagen und kommt nun, um es wieder zu suchen und zu fragen, wie er es finden und wieder gewinnen könne. Sodann ertheilt ihm Gott Antwort, wie man es finden könne; und heilige Schauer weckt noch mehr dieser Mund als selbst der Spruchort über der Bundeslade. Denn von jenem Gnadenthrone vernahm man niemals eine solche Stimme; da war die Rede von weit minderen Dingen, von Krieg und Frieden auf Erden; aber hier ausschließlich von Himmel und dem künftigen Leben und von ganz neuen Dingen, die über jeden Begriff erhaben sind. Nachdem Paulus aber gesagt hat: „Grüßet einander in heiligem Kusse,“ so fährt er fort: „Es grüßen euch die Heiligen alle;“ auch Das, um ihnen freudige Hoffnungen zu erwecken. Dieses fügt er bei statt des Kusses, indem er den Gruß zum Bande der Vereinigung macht. Denn von demselben Munde wie der Kuß kommen auch die Worte. Siehst du, wie er Alle zur Einheit verbindet, die dem Leibe nach Fernen wie die Nahen, diese durch den Kuß, jene durch das Schreiben?
13. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe des Gottes und Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
Nachdem er sie mittels Gruß und Kuß mit einander S. 467 verbunden hat, so schließt er wiederum mit Gebet die Rede, voll sorgsamen Bemühens, sie auch mit Gott zu verbinden.
Wo sind sie nun, die da sagen: Weil der heilige Geist nicht eingereiht ist in den Eingängen der Briefe, so ist er nicht desselben Wesens? Siehe, hier hat ihn der Apostel in eine Reihe gesetzt mit dem Vater und dem Sohne. Und ausserdem kann man auch darauf hinweisen, daß Paulus im Briefe an die Kolosser nach den Worten: „Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater,“2 den Sohn verschweigt und nicht wie sonst in allen Briefen beifügt: und dem Herrn Jesus Christus. Wird nun wohl darum auch der Sohn nicht von gleicher Wesenheit sein? Ein solcher Schluß wäre doch mehr als unverständig. Denn gerade Das ist der größte Beweis für die Gleichheit seines Wesens, daß Paulus so verschieden dabei verfährt. Und daß das Gesagte nicht leere Vermuthung sei, so höre nur, wie er des Sohnes und des Geistes gedenkt und den Vater verschweigt. Denn im Briefe an die Korinther sagt er: „Doch ihr seid abgewaschen, doch ihr seid geheiligt, doch ihr seid gerechtfertigt im Namen des Herrn Jesus Christus und im Geiste unseres Gottes.“3 Wie nun, frage ich, waren die Korinther nicht auf den Vater getauft? Dann sind sie weder abgewaschen noch geheiligt. Aber sie haben doch die Taufe empfangen! wie sie denn auch wirklich getauft waren. Warum sagt nun der Apostel nicht: Ihr seid abgewaschen im Namen des Vaters? Weil es ihm keinen Unterschied macht, bald dieser bald jener göttlichen Person zu gedenken, eine Gepflogenheit, die man an vielen Stellen seiner Briefe finden kann. So sagt er im Briefe an die Römer: „Ich bitte euch nun bei den Erbarmungen Gottes,“4 obschon auch dem Sohne die Erbarmungen zukommen; und: „Ich bitte euch bei der Liebe des Geistes,“5 obschon auch dem Vater die Liebe zu- S. 477 kommt. Weßhalb nun gedenkt Paulus bei den Erbarmungen nicht des Sohnes, noch bei der Liebe des Vaters? Weil er diese Eigenschaften als offenbare und allgemein bekannte verschwieg. Ja man wird finden, daß er sogar die Gaben selbst wiederum mit einander vertauscht. So sagt er hier: „Die Gnade Christi und die Liebe des Gottes und Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes;“ und anderswo nennt er die Gemeinschaft des Sohnes und die Liebe des Geistes. „Ich bitte euch,“ sagt er, „bei der Liebe des Geistes.“ Und im Schreiben an die Korinther: „Getreu ist Gott, durch den ihr berufen wurdet zur Gemeinschaft seines Sohnes.“6
So sind also die Eigenschaften der Dreifaltigkeit ohne Theilung und Trennung; und wo die Gemeinschaft des Geistes ist, da wird sie auch erfunden als die des Sohnes; und wo die Gnade des Sohnes ist, da ist auch die des Vaters und des heiligen Geistes; denn „Gnade euch,“ heißt es, „von Gott dem Vater.“ Und anderswo zählt Paulus viele Arten der Gnade auf und fährt dann fort: „All Dieses aber wirkt der eine und nämliche Geist, der einem Jeden besonders zutheilt nach seinem Wohlgefallen.“7 Und Dieses sage ich, nicht als wollte ich den Unterschied der Personen verwischen, durchaus nicht; sondern weil ich sowohl ihre Eigenthümlichkeit und Besonderheit als auch die Einheit ihres Wesens erkenne.