II.
S. 274 Kap. VIII.
1. Ich mache euch aber kund, Brüder, die Gnade Gottes, die gegeben ist den Gemeinden von Macedonien.
Paulus hat den Korinthern hohes Lob gespendet und läßt nun wieder eine Ermahnung folgen. Denn darum hat er zum Tadel das Lob gefügt, weil er fürchtete, es möchten, wenn er sogleich vom Tadel zur Ermahnung überginge, seine Worte weniger günstig aufgenommen werden. Er wollte sich daher zuerst das Ohr geneigt machen, damit die Ermahnung leichter Eingang fände. Er will nämlich jetzt vom Almosen reden. Darum hat er schon vorher bemerkt: „Ich freue mich, daß ich in Allem auf euch vertrauen darf;“ denn die Erwähnung des Rühmlichen, das sie bereits gethan, soll sie auch zu diesem frommen Werke bereitwilliger machen. Er sagt jedoch nicht ohne Weiteres: Gebet nun Almosen! Er weiß vielmehr die Rede aus weiter Ferne gar kundig einzuleiten. „Ich mache euch kund,“ sagt er, „die Gnade Gottes, die gegeben ist in den Gemeinden von Macedonien.“ Damit sie nämlich nicht unwillig würden, redet Paulus von Gnade; und indem er von den Macedoniern spricht und ihr Verhalten rühmt, sucht er den Eifer der Korinther zu beleben. Und ein doppeltes, ja ein dreifaches Lob spendet er den Macedoniern: daß sie standhaft die Prüfungen ertragen, daß sie wohlthätig sind, und daß sie, obwohl selbst arm, Großmuth im Geben zeigten. Denn ihre Güter waren ihnen geraubt worden. Dieses ersehen wir aus der Stelle des Briefes an sie, wenn der Apostel sagt: „Ihr seid Nachahmer der Kirchen Gottes in Judäa geworden; denn euch ist Dasselbe von euren Stammesgenossen widerfahren, was jenen von den Juden.“1 Und was schreibt Paulus S. 275 später im Briefe an die Hebräer? „Den Raub eurer Habe,“ sagt er, „habt ihr mit Freuden hingenommen.“2 Von Gnade aber redet er theils aus Schonung für die Korinther, theils auch in der Absicht, sie anzuspornen und zugleich der Rede alles Mißfällige zu benehmen. Darum redet er sie auch als Brüder an, um so im voraus allem Übelwollen zu begegnen. Denn er will ja die Macedonier in ungewöhnlichem Grade loben. Worin besteht nun dieses Lob? Nachdem er gesagt hat: „Ich mache euch kund die Gnade Gottes,“ fährt er nicht fort: Die gegeben ist in dieser oder jener Stadt; er rühmt vielmehr das gesammte Volk, wenn er spricht: „In den Kirchen Macedoniens.“ Dann erklärt er sofort, worin diese Gnade besteht:
2. Daß bei vieler Bewährung durch Drangsal (in ihnen war) die Fülle der Freude.
Siehst du, wie einsichtsvoll er vorangeht? Denn er setzt nicht zuerst Das, was er eigentlich sagen will, sondern vorher etwas Anderes. Dadurch erreicht er, daß es scheint, als wolle er nicht absichtlich vom Almosen reden, sondern es habe ihn eine andere Gedankenfolge auf diesen Gegenstand geführt. — „Bei vieler Bewährung durch Drangsal.“ Das Nämliche spricht er auch im Briefe an die Thessaloniker selbst aus mit den Worten: „Ihr seid Nachahmer des Herrn geworden, indem ihr das Wort in vieler Drangsal aufgenommen habt, in der Freude des heiligen Geistes.“3 Und wiederum: „Von euch ist ausgegangen die Kunde vom Wort des Herrn; nicht bloß nach Macedonien und Achaja, sondern überallhin ist euer Vertrauen auf Gott gedrungen.“4
S. 276 Was heißt nun Das: „Bei vieler Bewährung durch Drangsal (war in ihnen) die Fülle der Freude?“ Beides, will er sagen, ist ihnen im reichsten Maße geworden, Drangsal wie Freude. Und eben Das war so zu verwundern, daß ihnen eine solche überströmende Freude aus der Drangsal erwachsen ist. Statt daß sie ihnen Traurigkeit erzeigte, ist ihnen die Drangsal, so groß sie auch war, vielmehr Anlaß zur Freude geworden. Dieses sagt Paulus, um die Korinther zu ermuntern, in den Bedrängnissen standhaft und unerschütterlich zu bleiben. Denn die Bedrängnisse der Macedonier blieben ja nicht fruchtlos; sie hatten vielmehr zur Folge, daß sie bewährt wurden durch ihre Geduld. Doch sagt Paulus nicht: Durch ihre Geduld; er redet vielmehr von Etwas, was weit mehr ist als Geduld, von Freude. Ja, er sagt auch nicht einfach Freude, sondern „Fülle der Freude“; denn eine reiche, unermeßliche Fülle ist in ihnen aufgeblüht.
„Und daß ihre gar tiefe Armuth übergeströmt ist im Reichthum ihrer Milde.“ Wiederum Beides im höchsten Grade. Denn wie die große Drangsal große Freude erzeugte, ja Fülle der Freude, so erzeugte auch die Armuth großen Reichthum des Almosens. Das will Paulus ausdrücken, wenn er sagt: „Ihre Armuth ist übergeströmt im Reichthum ihrer Milde.“ Denn nicht nach der Größe der Gabe, sondern nach der Gesinnung des Gebers muß man die Freigebigkeit bemessen. Darum redet auch Paulus nirgends vom Reichthum ihrer Gaben, sondern nur vom Reichthum ihrer Milde. Der Sinn seiner Worte ist dieser: Ihre Armuth hat sie am reichlichen Geben nicht bloß nicht gehindert, sondern ist ihnen sogar Anlaß zum überreichlichen Geben geworden, gleichwie die Drangsal Anlaß wurde zur Fülle der Freude. Je ärmer sie waren, desto größer war ihr Eifer, desto bereitwilliger gaben sie. Darum bewundert sie Paulus auch so sehr, weil sie bei solcher Armuth solche Freigebigkeit zeigten. „Ihre gar tiefe Armuth,“ sagt er, d. h. ihre große, S. 277 unbeschreibliche Armuth hat ihre Milde geoffenbart. Doch heißt es nicht: „hat geoffenbart,“ sondern: „hat überströmen lassen;“ auch nicht: Milde, sondern: „Reichthum der Milde,“ einen Reichthum, welcher der Größe ihrer Armuth das Gleichgewicht hielt; ja vielmehr noch weit überwiegender war die Reichlichkeit, die sie gezeigt haben. Und nun erklärt sich Paulus über diese Reichlichkeit deutlicher, indem er sagt:
3. Denn nach Vermögen, ich bezeuge es —
gewiß ein glaubwürdiger Zeuge! — „und über Vermögen“ gaben sie; das ist jener „überströmende“ Reichthum ihrer Milde. Und Das ist dem Apostel noch nicht genug; er führt den Beweis noch weiter in den folgenden Worten. „Aus eigenem Antriebe,“ sagt er. Siehe, das ist der zweite Umstand, welcher Bewunderung verdient!
4. Mit vielem Andringen.
Siehe, das ist der dritte und vierte! „Uns bittend.“ Siehe, das der fünfte! Dazu in eigener Drangsal und Armuth; das der sechste; und endlich der siebente: Sie haben überschwenglich gegeben.