5.
Aber auch Petrus verdankte, was er war, lediglich der (göttlichen) Erbarmung, Denn höre, was Christus zu ihm sagt: „Der Satan hat verlangt, euch sieben zu dürfen, wie man den Weizen siebt; und ich habe für dich gebetet, daß deine Gnade nicht aufhöre1.“ — Auch Johannes war nur durch Gottes Erbarmung, was er war, und überhaupt alle (Apostel). Höre nämlich Christum sagen: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt2.“ Wir bedürfen eben samt und sonders der Barmherzigkeit Gottes; denn es heißt: „Die Barmherzigkeit Gottes erstreckt sich auf alles Fleisch,“ — Wenn aber die Apostel der Barmherzigkeit Gottes bedurften, was soll man erst von den andern Menschen sagen? Wie ließe es sich sonst erklären, daß er seine Sonne aufgehen läßt über Böse und über Gute? Oder wie: Wenn er nur ein Jahr lang den Regen zurückhielte, würde er da nicht alle vernichten? Oder wie: Wenn er eine (zweite) Sündflut verhängte? Oder wie: Wenn er Feuer vom Himmel regnen ließe? Oder wie: Wenn er Fliegenschwärme schickte? Doch was rede ich? Wenn er eine Finsternis hervorriefe wie einst (in S. 69 Ägypten), würden nicht alle zugrunde gehen? Wenn er die Erde erbeben machte, würden nicht alle verloren sein? Da ist das Wort der Schrift am Platze: „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst3?“ Nur ein dräuender Wink von ihm, und die Erde wäre ein alle umschließendes Grab. „Wie ein Wassertropfen am Eimer“, sagt die Schrift, „so sind die Völker vor ihm; dem Schaume gleich sind sie zu achten, dem Zünglein der Waage4.“ Wie es für uns ein Leichtes ist, das Zünglein an der Waage zu bewegen, so für ihn, das Weltall zu vernichten und wieder ins Dasein zu rufen. Wenn nun Gott, der so unbeschränkte Macht über uns besitzt, uns Tag für Tag sündigen sieht, ohne uns zu strafen, erträgt er uns da nicht aus reiner Barmherzigkeit? Verdankt ja auch das Vieh Dasein [und Erhaltung] seiner Erbarmung. Denn: „Menschen und Vieh erhältst du, o Herr5!“ Er blickte herab auf die Erde und erfüllte sie mit lebenden Wesen. Warum? Deinetwegen. Warum aber hat er dich geschaffen? Aus reiner Güte. — Nichts ist besser als das Öl (= die Barmherzigkeit). Es erzeugt Licht hienieden und drüben. „Dann wird dein Licht“, sagt der Prophet, „hervorbrechen wie der Morgen6“, wenn du Erbarmen übst gegen den Nächsten. Und gleichwie das Öl uns das irdische Licht spendet, so gewährt uns die Barmherzigkeit im Jenseits helles und herrliches Licht. Auf dieses Öl der Barmherzigkeit legte Paulus außerordentlichen Wert. Höre nämlich, wie er einmal sagt: „Nur sollten wir der Armen eingedenk sein7“, ein andermal aber: „Wenn es der Mühe wert ist, daß auch ich reise8.“ Kurz, überall und nach jeder Richtung hin findest du ihn dafür besorgt. Und wiederum: „Mögen aber auch die Unsrigen lernen, guten Werken zu obliegen9“, und abermals: „Denn dies ist den Menschen gut und heilsam10.“ Höre aber auch das Wort eines andern: „Almosen errettet vom Tode11.“ „Wenn du aber dein Erbarmen entziehst, Herr, Herr, S. 70 wer wird bestehen12?“, und: „Geh nicht ins Gericht mit deinem Knechte13!“ „Etwas Großes ist der Mensch“: warum? „und kostbar ist ein barmherziger Mann14.“ Denn barmherzig sein, das ist der wahre Mensch; oder besser gesagt: barmherzig sein, das ist Gott. — Siehst du, wie groß die Macht der göttlichen Barmherzigkeit ist? Durch15 sie hat er alles gemacht, durch sie hat er die Welt hervorgebracht, durch sie hat er die Engel erschaffen, lediglich aus Güte. Auch mit der Hölle hat Gott nur deswegen gedroht, damit wir des Himmelreiches teilhaftig würden; wir werden aber des Himmelreiches teilhaftig durch (seine) Barmherzigkeit. Warum hat denn Gott, da er allein war, so viele Menschen erschaffen? Nicht aus Güte? Nicht aus Menschenfreundlichkeit? Und so magst du bei diesem und jenem nach dem Warum fragen, überall wirst du die Güte finden. — So wollen wir denn gegen unsere Nebenmenschen barmherzig sein, damit wir selbst Barmherzigkeit finden! Auf diese Weise sammeln wir für jene, wie nicht minder für uns selbst Barmherzigkeit auf jenen Tag. Wenn da das Feuer mächtig auflodert, so wird dieses Öl das Feuer löschen, wird dieses Öl uns eine reiche Quelle des Lichtes werden. So werden wir von dem Feuer der Hölle durch dasselbe befreit; denn wodurch sonst wird Gott sich zu Erbarmen und Mitleid bestimmen lassen? Aus der Liebe entspringt das Mitleid. Nichts erzürnt Gott so sehr als Unbarmherzigkeit. Man brachte ihm einen, der zehntausend Talente schuldig war; und er erbarmte sich und schenkte ihm die ganze Schuld. Jenem nun wurden von einem Mitknechte hundert Denare geschuldet; und er würgte ihn. Deshalb übergab ihn der Herr den Peinigern, bis er seine Schuld bezahlt hätte16. — Dies wollen wir bedenken S. 71 und barmherzig sein gegen unsere Schuldner, mag die Schuld in Geld, mag sie in Beleidigungen bestehen! Keiner sinne auf Rache, wenn er sich nicht selbst schaden will; denn jenen schädigt er nicht so sehr17. Entweder nämlich er rächt sich an ihm ... , oder er vermochte sich nicht zu rächen ... ; selber aber willst du in das Himmelreich kommen, obwohl du dem Nächsten die Beleidigungen nicht verzeihst? — Damit uns dieses nicht widerfahre, wollen wir allen die Schuld erlassen; denn wir erlassen sie ja nur uns selbst. Wir wollen allen verzeihen, auf daß Gott uns unsere Sünden verzeihe und wir so der zukünftigen Güter teilhaftig werden, durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater gleichwie dem Hl. Geiste Herrlichkeit, Macht und Ehre sei, jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen.
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Luk. 22, 31. 32. ↩
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Joh. 15, 16. ↩
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Ps. 8, 5. ↩
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Is. 40, 15. ↩
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Ps. 35, 7. ↩
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Is. 58, 8. ↩
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Gal. 2, 10. ↩
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1 Kor. 16, 4. ↩
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Tit. 3, 14. ↩
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Ebd. 3, 8. ↩
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Tob. 12, 9. ↩
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Ps. 129, 3. ↩
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Ps. 142, 2. ↩
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Falsche Übersetzung von Sprichw. 20, 6. Der Text lautet: רָב־אָדָ֗ם יִ֭קְרָא אִ֣ישׁ חַסְדֹּ֑ו ↩
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Mit Rücksicht auf den Zusatz δἰ ἀγαθότητα μόνον empfiehlt es sich, statt des dreimaligen τοῦτο besser διὰ τοῦτο zu lesen. ↩
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Vgl. Matth. 18, 23 ff. ↩
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Die folgende Stelle ist schwer verständlich und offenbar verderbt. Die Mauriner gaben im Anschluß an Savile die Stelle folgendermaßen wieder: „Denn wenn du dem andern nicht vergibst, tust du nicht so fast ihm wehe, als da dir selber schadest. Wenn nämlich du ihn verfolgst, so verfolgt ihn Gott nicht: wenn dagegen du ihn losläßt, so zieht Gott entweder ihn selbst zur Rechenschaft oder läßt dir deine Sündenschuld nach.“ Es scheint sich hierbei lediglich um eine Konjektur zu handeln. ↩