II.
17. Priester, welche gute Vorsteher sind, sollen doppelt in Ehren gehalten werden,besonders die, welche im Wort und in der Lehre arbeiten. 18. Denn die Schrift sagt: „Du sollst dem dreschenden Ochsen das Maul nicht verkörben,“ und: „Der Arbeiter ist seines Lohnes werth.“
Unter „Ehren“ versteht der Apostel die Verpflegung, die Darreichung der Lebensbedürfnisse. Das beweist die Citirung der Stelle: „Du sollst dem dreschenden Ochsen das Maul nicht verkörben!“ und: „Der Arbeiter ist seines Lohnes werth.“ Auch wo er sagt: „Halte die Wittwen in Ehren!“ versteht er darunter die Versorgung mit dem Nothwendigen: „Die Gemeinde soll die wahren Wittwen unterstützen,“ heißt es; und wiederum: „Halte die wahren Wittwen in Ehren!“ d. h. die armen. Je armer nämlich eine ist, desto mehr ist sie eine Wittwe. Der Apostel citirt den Ausspruch des Gesetzes und den Ausspruch Christi, und beide stimmen überein. Denn das Gesetz sagt: „Du sollst dem dreschenden Ochsen das Maul nicht verkörben!“ Siehst du, wie nach dem Willen des Apostels der Prediger sich abmühen soll? Wahrhaftig, es gibt kein anderes so mühevolles Amt wie das seinige! Das ist also der Ausspruch des Gesetzes. Wie lautet aber der Ausspruch Christi? S. 200 „Der Arbeiter ist seines Lohnes werth.“ Sehen wir also nicht bloß auf den Lohn, sondern auch auf die Voraussetzung, unter welcher dessen Darreichung befohlen wird! „Der Arbeiter ist seines Unterhaltes werth,“ will nämlich Das heissen. Also der Schlemmer, der Müßiggänger ist dessen nicht werth. Wenn Einer kein „dreschender“ Ochse ist, wenn er nicht dem würgenden Joche und dem Dorngestrüppe zum Trotz am Wagen zieht, ohne auszulassen, bis er die Frucht in die Scheune gebracht hat, dann verdient er Nichts. Also es muß den Lehrern der Lebensunterhalt in reichlichem Maße zufließen, damit sie nicht müde und erschöpft werden, damit sie nicht in der Sorge für kleinliche Dinge ihr erhabenes Amt vernachlässigen, damit sie sich mit geistlichen Dingen befassen, ohne auf die weltlichen Rücksicht nehmen zu müssen. So war es bei den Leviten: sie kümmerten sich gar nicht um das Irdische, da die Laien sich um ihre Verpflegung kümmerten. Und durch das Gesetz waren die Einkünfte, z. B. der Zehent bestimmt, die Geldabgaben, die Erstlinge, die Votivgaben und vieles Andere. Ihnen allerdings waren solche Dinge mit Recht zugesprochen, da sie nach Irdischem trachteten; ich aber sage, daß die Vorsteher nur das Nothwendige brauchen, Nahrung und Obdach, damit sie nicht in diese Dinge sich verstricken.
Was heißt aber „doppelt in Ehren halten“? „Doppelt“ entweder im Vergleich zu den Wittwen oder zu den Diakonen, oder es ist einfach „doppelt“ so viel als „in hohem Maße“. Laßt uns also nicht darauf allein sehen, daß der Apostel sie „doppelter Ehre“ werth hält, sondern daß er auch beifügt: „welche gute Vorsteher sind.“ Was will Das sagen: „gute Vorsteher“? Hören wir den Ausspruch Christi: „Der gute Hirt gibt sein Leben für seine Schafe.“1 Also Das heißt „ein guter S. 201 Vorsteher sein“, wenn man kein Opfer scheut um der Sorge für die Gläubigen willen.
„Besonders die, welche im Wort und in der Lehre arbeiten.“ Wo sind sie nun, die da behaupten, man brauche kein Wort, man brauche keine Lehre, da doch der Apostel den Timotheus so eindringlich auffordert: „Das nimm dir zu Herzen, damit befasse dich!“ Und weiter: „Halte dich an die Lesung, an die Ermahnung! Thust du also, so wirst du dich selber retten und deine Zuhörer.“2 Solche Männer will er zumeist vor allen anderen geehrt wissen, und er fügt auch die Ursache bei: weil sie sich nämlich einer großen Mühe unterziehen. Ganz richtig! Wenn nämlich der Andere keine Nächte zu opfern und sich den Kopf nicht zu zerbrechen braucht, sondern sich einfach hereinsetzt ohne Beklemmung und ohne Sorge, während Jener sich abmüht mit Denken und Studiren, besonders wenn ihm das Gerede, welches ausserhalb der Kirche geführt wird, noch nicht gleichgiltig ist: wie sollte er nicht am meisten und mehr als alle Andern geehrt werden, da er sich solchen Mühsalen unterzieht? Er ist ja der Gesprächsgegenstand für tausend Zungen. Der tadelt, der Andere lobt, ein Dritter verspottet ihn, ein Vierter hält sich über das Memoriren oder die Stilisirung der Predigt auf, und es gehört große Geduld dazu, um Das zu ertragen. Ja, Das ist wichtig, sehr wichtig für die Erbauung der Gemeinde, und von großem Nutzen, daß die Vorsteher tüchtige Prediger seien. Ist Das nicht der Fall, dann haben die Gemeinden großen Schaden. Deßhalb führt der Apostel nach den anderen Eigenschaften (eines Bischofs), nach der Gastfreiheit, Milde, Untadelhaftigkeit auch noch diese auf: die Lehrgabe. Warum heißt er denn Lehrer? Ja, sagst du, weil er eben durch sein Beispiel die Weisheit lehren soll. Also wäre Das, wovon ich spreche, überflüssig, und es be- S. 202 dürfte nicht des Lehrwortes zum Fortschreiten der Gläubigen? Wie könnte dann Paulus von Solchen sprechen, „die im Wort und in der Lehre arbeiten“? Wenn es sich um Dogmen handelt, was hat da irgend ein Beispiel zu thun?
Von welchem Worte spricht da der Apostel? Nicht von dem prunkenden, nicht von der weltlichen Schönrednerei, sondern von dem Worte, welchem die Vollkraft des heiligen Geistes innewohnt, das voll Einsicht und Verstand ist. Also nicht rednerischer Schmuck, nicht Phrasen sind’s, was er braucht, sondern Gedanken, mögen sie ausgedrückt sein, wie immer; keine künstliche Komposition, sondern Seele.
19. Gegen einen Älteren nimm keine Klage an ausser bei zwei oder drei Zeugen.
Soll man also gegen einen Jüngeren ohne Zeugen eine Klage annehmen? Kann man Das überhaupt gegen Jemand, und soll man nicht in allen Fällen erst auf Grund genauer Untersuchung ein Urtheil fällen? Was will also der Apostel sagen? „Gegen Niemanden sollst du eine Klage annehmen, insbesondere nicht gegen einen älteren (πρεσβυτέρου). Mit πρεσβύτερος bezeichnet er nämlich hier nicht die priesterliche Würde, sondern das Alter. Der Jüngling macht ja leichter einen Fehltritt als der Greis. Das erhellt daraus, weil Timotheus mit der Leitung einer ganzen Gemeinde oder vielmehr der asiatischen Nation betraut war. Deßhalb gibt ihm Paulus auch Verhaltungsmaßregeln in Bezug auf die älteren.
20. Die Fehlenden weise in Gegenwart Aller zurecht, damit auch die Übrigen Furcht haben!
Das heißt: Stoße dieselben nicht gleich aus der Gemeinde, sondern prüfe Alles mit vieler Umsicht. Bist du S. 203 jedoch deiner Sache sicher, dann gehe scharf darein, damit die Andern auch zur Besinnung kommen! Gleichwie ein unbesonnenes Urtheil Schaden bringt, so auch die Schonung offenkundiger Sünder; das heißt den Andern den Weg eröffnen, um das Nämliche zu thun und zu wagen. Tadle, meint der Apostel, nicht einfach, sondern mit Energie. Dann werden nämlich auch die Übrigen Furcht bekommen. Wie kann nun Christus sagen: „Gehe hin und verweise es ihm zwischen dir und ihm allein, wenn er gegen dich gefehlt hat“?3 Ausser diesem letzteren Falle gestattet er auch den Andern in der Gemeinde zu tadeln.