I.
Kap. I.
S. 251 1. Paulus, Apostel Jesu Christi durch Gottes Willen, zur Verheissung des Lebens, das da ist in Christus Jesus,
2. An Timotheus, den geliebten Sohn, Gnade, Erbarmen und Frieden von Gott dem Vater und unserm Herrn Jesus Christus.
I. Warum sendet denn der Apostel an Timotheus einen zweiten Brief? Er hatte gesagt: „Ich hoffe recht bald zu dir zu kommen.“1 Das war ihm nicht möglich. Er tröstet ihn also auf schriftlichem Wege anstatt in eigener Person, da er vielleicht in Betrübniß war sowohl aus diesem Grunde, als auch in Bezug auf das kirchliche Regiment, das er damals schon übernommen hatte. Denn sind es auch große Männer, welche das Steuer und die Leitung der Kirche übernommen haben, so wird ihnen doch ganz eigenthümlich zu Muthe, wenn sie in die rings fluthenden Wogen der S. 252 Amtsthätigkeit eintauchen müssen, und besonders war es damals der Fall, wo mit der Predigt des Christenthums erst der Anfang gemacht wurde, wo Alles noch verwildert dalag, wo Alles feindselig war, wo Alles Opposition machte. Und nicht bloß das, sondern es gab auch Häresieen von jüdischen Lehren gestiftet, wie aus dem ersten Briefe erhellt. Aber der Apostel tröstet den Timotheus nicht nur mit Briefen, sondern er lädt ihn zu sich ein mit den Worten: „Eile, daß du bald zu mir kommst!“ Und: *„Wenn du kommst, so bringe die Bücher mit, besonders die Pergamentrollen.“2
Übrigens bin ich der Meinung, daß dieser Brief nahe an das Lebensende des Apostels fällt. „Schon werde ich ausgegossen,“ schreibt er.3 Und abermals: „Bei meiner ersten Vertheidigung ist mir Niemand beigestanden.“4 Indem er also Das alles durchgemacht hat, schöpft er auch den Trost aus seinen persönlichen bitteren Erlebnissen und sagt: „Paulus, Apostel Jesu Christi durch Gottes Willen, zur Verheissung des Lebens, das da ist in Christus Jesus.“ Gleich im Eingang richtet er die Seele des Timotheus auf. Rede mir nicht, will er sagen, von den Gefahren des irdischen Daseins! Diese erwerben uns das ewige Leben, wo es nichts Derartiges mehr gibt, wo Klage, Weh und Seufzen entschwunden sind! Denn nicht deßhalb hat uns Gott zu Aposteln gemacht, damit wir bloß Gefahren ausgesetzt sind, sondern auch damit wir dereinst nach dem Tode diese Seligkeit erlangen. Da nämlich die bloße Aufzählung seiner eigenen Bedrängnisse dem Jünger nicht nur keinen Trost, sondern im Gegentheil sogar eine Steigerung der traurigen Stimmung verursachen würde, so bringt er gleich in den Einleitungsworten etwas Tröstliches, indem S. 253 er von den Verheissungen des Lebens spricht, „das da ist in Christo Jesu.“ Ist es Gegenstand der Verheissung, so suche es nicht hinieden! Die geschaute Hoffnung ist keine Hoffnung mehr.
„An Timotheus, den geliebten Sohn.“ Nicht einfach an den „Sohn“, sondern an den „geliebten Sohn“. Es gibt auch Söhne, die man nicht liebt. Ein solcher bist du nicht, will der Apostel sagen, und ich nenne dich nicht einfach „Sohn“, sondern „geliebter Sohn“. Auch die Galater nennt er Kinder, doch beklagt er sich auch über sie, indem er sagt: „Meine Kinder, die ich nochmals mit Schmerzen gebäre.“5 Die Anrede „geliebter Sohn“ enthält ein besonderes Zeugniß für die Tugend des Timotheus. Wie so? Wenn die Liebe nicht in einem natürlichen Verhältniß wurzelt, dann hat sie ihre Quelle in der Tugend. Unsere leiblichen Kinder sind uns nicht bloß wegen ihrer guten, sittlichen Eigenschaften theuer, sondern auch infolge des Naturtriebes. Ist uns aber Jemand im christlichen Sinne theuer, so ist er es aus keinem anderen Grunde als wegen seiner Tugend. Aus welchem Grunde denn sonst? Und besonders beim hl. Paulus, der Nichts aus vorgefaßter Neigung thut. Ausserdem zeigt er durch die Anrede „Geliebter Sohn“, daß er nicht aus Groll, aus Geringschätzung, aus Verkennung gegen ihn seinen Besuch unterlassen habe.
„Gnade, Erbarmen und Friede von Gott dem Vater und unserm Herrn Jesus Christus.“ Dasselbe wie früher erfleht er auch jetzt für ihn.
Man beachte ferner, wie der Apostel gleich im Eingang sich dem Jünger gegenüber gegen den Vorwurf ver- S. 254 wahrt, daß er nicht zu ihm kam und ihn nicht besuchte. Frühere Aeusserungen nämlich: „Bis ich komme“ und „ Ich eile, bald zu dir zu kommen,“6 ließen seinen baldigen Besuch erwarten. Dafür also entschuldigt er sich jetzt. Die Ursache freilich, warum er nicht kam, sagt er nicht gleich, damit er den Jünger nicht in gar so große Betrübniß versetzte. Die Ursache war aber die, daß er vom Kaiser gefangen gehalten wurde. Da, wo er ihn am Schlusse des Briefes zu sich rief, da gab er auch diesen Grund offen an. Gleich im Eingang aber will er ihm keine Betrübniß verursachen, weßbalb er von der Hoffnung eines Wiedersehens spricht: „Ich sehne mich, dich zu sehen,“ und: „Beeile dich, schnell zu mir zu kommen.“
Sofort in den einleitenden Worten also spricht er ihm Muth zu und fährt dann fort mit Lobeserhebungen:
3. Ich danke Gott, dem ich diene von meinen Vätern her mit reinem Gewissen, daß ich immerfort deiner gedenke in meinem Gebete Tag und Nacht,
*4. Mich sehnend dich zu sehen, eingedenk deiner Thränen, damit ich mit Freude erfüllt werde.
Ich danke Gott, daß ich deiner gedenke, sagt er: so sehr liebe ich dich. Das ist ein Beweis überquellender Liebe, wenn Jemand aus großer Freundschaft sich der Freundschaft rühmt.
„Ich danke Gott, dem ich diene.“ Wie? „Mit deinem Gewissen von meinen Vätern her.“
S. 255 Sein Gewissen war nicht befleckt. Unter „Gewissen“ versteht er aber übrigens hier den Lebenswandel, und allenthalben ist ihm „Gewissen“ so viel als „Lebenswandel“. Oder er will sagen: „Von allem Guten, was ich beabsichtigte, habe ich Nichts aus menschlicher Rücksicht gethan, auch damals nicht, wo ich als Verfolger auftrat. Deßhalb sagt er: „Ich habe Barmherzigkeit gefunden, weil ich unwissend gefehlt habe, im Unglauben;“ fast will er sagen: „Lege meinem damaligen Thun keine böse Absicht unter.“ Treffend weist er auf seinen reinen Lebenswandel hin, damit seine freundschaftlichen Versicherungen mehr Glauben finden. Was er sagen will, ist nichts Anderes als: „Ich lüge nicht, ich rede nicht anders, als ich denke.“ Er hat auch ein andersmal nothgedrungen sich selbst gelobt, wie in der Apostelgeschichte zu lesen ist. Nachdem man ihn nämlich fälschlich als Aufrührer und Neuerer bezeichnet hatte, erklärte er: „Und Ananias redete zu mir. Der Gott unserer Väter hat dich auserwählt, zu erkennen seinen Willen und zu sehen das Gerechte und zu hören die Stimme aus seinem Munde, daß du sein Zeuge sein wirst, vor allen Menschen für das, was du gesehen und gehört hast.“7 So auch hier. Um nicht den Schein von einer Verletzung der Freundschaft und des Gewissens auf sich zu laden, als hätte er nämlich den Timotheus vergessen, so sagt er ganz mit Recht Löbliches von sich: „Ich bin immerfort deiner eingedenk,“ und nicht einfach eingedenk, sondern „in meinen Gebeten,“ d. h. Beten ist mein Tagwerk; die ganze Zeit, in einemfort beharre ich im Gebete. Dieß beweist er, mit der Behauptung, daß er „Tag und Nacht darum Gott gebeten habe.“
„Mich sehnend dich zu sehen.“ Siehst du das brennende Verlangen? Die überschwengliche Liebe? Den demüthigen Sinn? Wie er sich entschuldigt, der Meister S. 256 vor dem Jünger? Dann zeigt er, daß diese Sehnsucht nicht grundlos ist. Er sagt nämlich:
„Ich gedenke deiner Thränen.“ Ganz natürlich, daß Timotheus über die Trennung von ihm mehr weint und jammert, als ein Säugling, den man von der nährenden Mutterbrust weggerissen.
„Damit ich mit Freude erfüllt werde,“ verlange ich dich zu sehen. Ich hätte mir dieses Vergnügen nicht versagt, wenn ich auch noch so unempfindlich hart und unmenschlich wäre. Jene Thränen wären im Stande, mich zum mitleidigen Andenken zu bewegen. So aber bin ich kein solcher Mensch, sondern einer von den reinen Dienern Gottes. Vieles zieht mich zu dir: Also zunächst deinem Thränen! Noch eine andere Ursache führt er an, die zugleich einen Trost enthält:
5. Eingedenk des ungeheuchelten Glaubens, der in dir ist.