II.
Wenn er nicht lügt, so wird jedenfalls seine Verheissung auch in Erfüllung gehen; wenn er nicht lügt, dann ist kein Zweifel am Platz, auch wenn es sich um Dinge handelt, die erst nach dem Tode eintreten.
„Welches uns verheissen hat Gott, der nicht lügt, vor ewigen Zeiten.“ Diese letzteren Worte beweisen, welches Vertrauen seine Verheissung verdient. Nicht deßhalb, will der Apostel sagen, weil die Juden Gottes Ruf nicht Folge leisteten, ist jetzt die Verheissung an uns ergangen, sondern so war es schon von Anbeginn durch Typen vorgebildet. Höre nur, wie es weiter heißt:
„Zu seiner Zeit aber geoffenbart hat.“ Warum also der Aufschub? Aus providentiellen Gründen, um den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten. „Es ist Zeit für Gott, um zu handeln,“ sagt der Prophet.“1 Zu „seiner“ Zeit, d. h. im geeigneten, nothwendigen, passenden Momente.
„Er hat geoffenbart sein Wort durch die Predigt, womit ich betraut wurde,“ d. h. mit der Predigt. Darin, im Evangelium, ist Alles enthalten, Zeit und Ewigkeit, Leben, Gottesfurcht, Glaube, Alles mit einander. „Durch die Predigt,“ d. h. offen, mit Frei- S. 414 muth; Das versteht man unter „Predigt“. Wie ein Herold in Gegenwart aller Menschen von der Bühne aus seinen Auftrag verkündet, so verkünden auch wir den unsrigen; wir setzen Nichts hinzu, wir sagen bloß Das, was wir gehört haben. Wenn man also zu predigen hat, so muß es mit Freimuth geschehen; sonst ist es keine Predigt. Deßhalb hat auch Christus nicht gesagt: „Sprechet von den Dächern!“ sondern: „Prediget von den Dächern!“2 und hat damit Ort und Art der Verkündung des göttlichen Wortes angedeutet.
„Womit ich betraut wurde im Auftrage unseres göttlichen Heilandes.“ Dieses „Betrautwerden“ und „im Auftrag“ beweist das Vertrauenswürdige. Also darf sich Niemand entwürdigt fühlen, Niemand ärgern, Niemand entrüsten (wenn ich als Prediger auftrete). Wenn es ein Auftrag ist, dann bin ich nicht mein eigener Herr; ich komme ja bloß einem Befehle nach. Denn von Dem, was zu geschehen hat, ist Manches in unser Belieben gestellt, Manches aber nicht; was man „im Auftrage“ spricht, Das steht nicht in unserem Belieben; was bloß gerathen wird, Das ist unserem Belieben anheimgestellt. Zum Beispiel: „Wenn Jemand zu seinem Bruder sagt: Du Narr, Der ist des höllischen Feuers schuldig,“3 — in diesen Worten liegt ein Befehl; ebenso in den andern: „Wenn du deine Gabe zum Altare bringst und erinnerst dich, daß dein Bruder Etwas wider dich hat, dann lasse deine Gabe dort vor dem Altare und geh’ hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm’ und opfere deine Gabe!“4 Auch Das ist ein Austrag, und wer ihn nicht befolgt, verfällt nothwendig der Strafe. Wenn es aber heißt: „Willst du vollkommen sein, so verkaufe Alles, was du hast!“5 oder: „Wer es fassen kann, der fasse es!“6 so ist Das kein S. 415 Auftrag mehr. Denn hier wird der Zuhörer zum Herrn über das Gesagte gemacht und, was er thun will, in seine freie Wahl gestellt; Das können wir thun und lassen ganz nach Belieben. Aber Aufträge sind nicht unserem Belieben anheimgegeben, sondern da gibt es nur Eines: entweder sie vollführen oder sie nicht vollführen und dann der Strafe verfallen. Das sagt der Apostel mit den Worten: „Es ist mir die Nothwendigkeit auferlegt: Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predige!“7
Ich will die Sache noch deutlicher besprechen, damit sie Allen klar wird. Ein kirchlicher Würdenträger zum Beispiel, ein mit dem bischöflichen Amte bekleideter Mann, ist der nicht straffällig, wenn er nicht dem Volke seine religiösen Pflichten predigt? Der Laie jedoch hat keinerlei Verpflichtung dazu. Deßhalb sagt auch Paulus, er handle „im Auftrage unseres göttlichen Heilandes“. Und man beachte, wie dieser Zusatz zu dem Gedanken, den ich eben aussprach, paßt! Oben war die Rede von „Gott, der nicht lügt,“ hier spricht er von einem „Auftrage unseres göttlichen Heilandes“. Wenn er nun unser Heiland ist, dann hat er selber diesen Auftrag gegeben, in der Absicht, unser Heiland zu sein; folglich handelt es sich da nicht um hierarchische Gelüste, sondern um den Glauben und um einen Auftrag des göttlichen Heilandes.
„Dem Titus, dem ächten Kinde.“ Es gibt nämlich auch unächte Kinder, wie Derjenige eines war, von welchem der Apostel sagt: „Wenn Einer, der Bruder genannt wird, ein Hurer ist oder ein Wucherer oder Götzendiener oder ein Lästerer oder ein Trunkenbold, so sollt ihr mit einem Solchen nicht einmal essen!“8 Siehe, da haben wir auch ein „Kind“, aber kein „ächtes“! Ein „Kind“ wird ja Einer, sowie er einmal in das Reich der Gnade S. 416 aufgenommen und der Wiedergeburt theilhaftig geworden ist. Ein unächtes aber wird er, sowie er sich des Vaters unwürdig zeigt, sowie er zu einem andern Herrn überläuft. Bei leiblichen Kindern wird die Ächtheit und Unächtheit durch die Abstammung von Vater und Mutter bestimmt; in unserem Falle aber nicht auf solche Weise, sondern auf Grund des freien Willens. Da kann Einer, der ein ächter Sohn ist, aufhören, ein solcher zu sein, und Einer, der es nicht ist, ein solcher werden. Denn diese Dinge sind durch keinen Naturzwang bestimmt, sondern durch die Willensfreiheit, weßhalb auch mannigfacher Wechsel vor sich geht. Onesimus9 war früher ein ächter Sohn, später aber nicht mehr, er ist ausgeartet; allein er wurde abermals ein ächter Sohn, so daß er das Herzenskind des Apostels genannt wurde.
Titus, dem ächten Kinde nach dem gemeinsamen Glauben.
Was will Das sagen: „nach dem gemeinsamen Glauben“? Nachdem der Apostel ihn als Sohn angeredet und die Rolle des Vaters übernommen hat, warum erniedrigt und demüthigt er mit diesen Worten wieder seine väterliche Würde? Merke auf! „Nach dem gemeinsamen Glauben“ sagt er, d. h.: In Bezug auf den Glauben habe ich Nichts vor dir voraus; denn er ist uns gemeinsam, und derselbe Glaube ist es, durch welchen ich und du Kinder Gottes geworden sind.
Warum nennt nun der Apostel den Titus sein „Kind“? Entweder bloß um seiner zärtlichen Liebe Ausdruck zu geben, oder weil er früher zum Predigtamt berufen worden als Titus, oder weil derselbe durch Paulus das Licht des Glaubens erblickt hat. In diesem Sinne nennt er seine S. 417 Jünger bald „Kinder“, bald „Brüder“; Letzteres, weil sie denselben Glauben an den Vater haben, Ersteres, weil sie durch seine Hand Kinder dieses Glaubens geworden sind. Wenn er also vom „gemeinsamen Glauben“ spricht, deutet er das brüderliche Verhältniß an.
Gnade und Friede von Gott dem Vater und dem Herrn Jesus Christus, unserem Heiland!