DER HEILIGE GERASIMOS UND SEIN LÖWE
Wohl eine Meile vom heiligen Jordanfluß liegt ein Kloster, das von dem heiligen Abbas Gerasimos seinen Namen hat. Dorthin kam ich einst, und da vernahm ich von den Vätern, die dort hausen, diese Geschichte. Eines Tages wandelte der Abbas Gerasimos am Ufer des heiligen Jordan, da begegnete ihm ein Löwe, der brüllte laut vor Schmerz an seinem Fuße; denn er hatte sich einen Rohrsplitter eingetreten, und davon war der Fuß geschwollen und voll Eiter. Da nun der Löwe den Alten sah, ging er zu ihm und zeigte mit S. 95 Winseln den schmerzenden Fuß mit dem Splitter und bat ihn um Hilfe. Und als der Alte ihn in dieser Not sah, hockte er nieder und ergriff den Fuß, schnitt ihn auf, drückte den Splitter samt dem Eiter aus, wusch die Wunde rein und verband den Fuß mit Linnen, dann ließ er den Löwen laufen. Der aber ließ den Alten nicht mehr, sondern folgte ihm wie ein treuer Schüler, wohin er immer ging, so daß der Alte sich höchlich wunderte ob dieser Dankbarkeit des Tieres; und er behielt ihn von nun an bei sich und fütterte ihn mit Brot und gequellten Bohnen.
Das Kloster aber hatte einen Esel zum Wasserholen für die Mönche, denn sie trinken das Wasser des heiligen Jordan, und der ist vom Kloster eine Meile entfernt. An dessen Ufer schickten nun die Väter alle Tage den Esel unter des Löwen Obhut auf die Weide. Doch einmal hatte sich der Esel beim Weiden von seinem Löwen ein gut Stück entfernt; da zogen Kameltreiber aus Arabien vorbei, die fanden den Esel, nahmen ihn und führten ihn mit sich nach Hause. Der Löwe aber kam ohne den Esel zurück ins Kloster zum Abbas Gerasimos, ganz traurig und gesenkten Hauptes. Da meinte der Abbas, er habe den Esel gefressen und sagte zu ihm: Wo ist der S. 96 Esel?! Er aber stand da, ganz wie ein Mensch, sagte nichts und sah auf den Boden. Spricht der Alte: Du hast ihn gefressen! Nun - Gott sei gepriesen! - die Arbeit, die der Esel tat, sollst du von nun an tun! Und fortan mußte der Löwe auf des Alten Geheiß den Lastsattel mit vier Fässern schleppen und Wasser holen.
Eines Tages kam ein Soldat zum Alten, um sein Gebet zu verrichten; der sah den Löwen Wasser tragen, und als er hörte warum, da dauerte ihn das Tier. Und er zog drei Goldstücke aus der Tasche und gab sie den Mönchen, damit sie einen Esel zum Wassertragen kauften und den Löwen frei ließen, und das geschah.
Als nun einige Zeit verstrichen war, da zog jener Kameltreiber, der den Esel mitgenommen hatte, wieder nach Jerusalem, um Getreide zu verkaufen, und hatte den Esel bei sich. Aber beim Übergang über den Jordan begegnete er dem Löwen, und wie er ihn sah, ließ er seine Kamele im Stich und ergriff die Flucht. Doch der Löwe erkannte seinen Esel, lief hin und faßte, wie er es gewohnt war, mit den Zähnen das Halfterband, und nahm ihn samt den drei Kamelen mit. So kam er hin zum Alten und brüllte vor Freude, daß er seinen verlorenen Esel wiedergefunden hatte. Da sah der Alte, daß er ihm Unrecht getan. Und der Löwe ward von nun ab Jordanes genannt und blieb beim Alten im Kloster fünf Jahre lang und war allewege unzertrennlich von ihm.
Als aber der Abbas Gerasimos zum Herrn dahinging und von den Vätern begraben wurde, da war durch Gottes Fügung der Löwe nicht im Kloster. Und als er bald danach heimkam, suchte er den Alten. Der Abbas Sabbatios, ein Schüler des Alten, erblickte den Löwen und sprach zu ihm: Jordanes, unser Alter hat uns als Waisen zurückgelassen und ist zum Herrn dahingegangen. Aber komm nur und nimm dein Futter! Doch der Löwe wollte nicht fressen und ließ seine Augen hierhin und dorthin gehen, ob er seinen Alten nicht sähe, und brüllte laut, da er ihn nicht fand. Der Abbas Sabbatios aber und die anderen Väter streichelten ihm den Rücken und sagten: Der Alte ist zum Herrn gegangen und hat uns verlassen, aber sie stillten sein Brüllen und Heulen nicht. Wenn sie meinten, ihn durch Zureden zu trösten, so brüllte er nur um so lauter und mehrte unaufhörlich seine Klage mit Stimme, Mienen und Augen, weil er den Alten nicht sah. Da sagte der Abbas Sabbatios S. 97: Komm mit mir, wenn du uns nicht glaubst! Und er brachte ihn dorthin, wo sie ihn begraben hatten; das war eine halbe Meile von der Kirche. Und Abbas Sabbatios trat auf das Grab und sprach zum Löwen: Sieh, hier ist unser Alter! und beugte seine Kniee. Und als ihn so der Löwe knieen sah, da stieß auch er sein Haupt hart auf die Erde und brüllte, und alsbald starb er auf dem Grabe des Alten.
Das ist geschehen, nicht weil der Löwe eine vernünftige Seele gehabt hätte, sondern weil Gott denen Ehre geben will, die ihm Ehre geben, nicht nur in diesem Leben, sondern auch nach dem Tode, und zeigen will, wie die Tiere dem Adam untertan waren, ehe er das Gebot übertrat und aus der Seligkeit des Paradieses fiel.