16. Was er von den Wundern des hl. Martinus erzählte
Als ich ihn darauf bat, mir etwas von den Wundern des heiligen Martinus zu erzählen, die dieser hier gewirkt hatte, teilte er mir folgendes mit: „Ein Franke, der unter seinem Volke in großen Ehren stand, hatte einen Sohn, der war taubstumm, und seine Eltern brachten ihn zu dieser Kirche. Ich ließ ihm wie meinem Diakon und einem ändern Diener das Bett in der Kirche selbst bereiten. Den Tag über lag er dem Gebete ob, und des Nachts schlief er, wie gesagt, in dem Tempel selbst. Da erschien mir durch die Gnade Gottes in einem Gesicht der heilige Martinus und sprach: ,Tue mein Lämmchen aus der Kirche, denn es ist schon geheilt/ Am Morgen aber, als ich mich noch bedachte, was es mit dem Traume sei, kam der Knabe zu mir, Hub an Gott zu loben, wandte sich zu mir und sagte: ,Jch danke dem allmächtigen Gott, der mir die Sprache und das Gehör wiedergegeben hat/ Seitdem war er gesund und kehrte nach Hause zurück. — Ein anderer, der sich schon häufig bei Diebstählen und anderen Verbrechen beteiligt und dann durch einen Meineid gereinigt hatte, sagte einst, als er abermals von einigen Leuten des Diebstahls geziehen wurde: ,Jch will nach der Kirche des heiligen Martinus gehen, durch einen Eid mich reinigen und euch meine Unschuld dartun1 Als er aber eintrat, fiel ihm die S. 274 Axt aus der Hand, und er sank an der Türe nieder, da ihn heftige Herzschmerzen befielen. Da bekannte der Bösewicht selbst, wovon er durch einen Meineid sich hatte reinigen wollen. — So sagte auch ein andrer, als er beschuldigt wurde, das Haus seines Nachbarn angesteckt zu haben: ,Jch werde zum Tempel des heiligen Martinus gehen und durch einen Eid mich von dieser Anschuldigung reinigen/ Es war aber offenbar, daß er jenes Haus angesteckt hatte. Wie er nun hinging den Eid zu leisten, wandte ich mich zu ihm und sagte: ,Wie deine Nachbarn behaupten, wirst du dich von dieser Schuld nicht reinigen können. Aber Gott wohnt überall, und seine Macht ist hier draußen ebensogut, wie man glaubt, daß sie drinnen in der Kirche sei. Wenn dich also die törichte Hoffnung blendet, Gott und seine Heiligen würden den Meineid nicht rächen, siehe, da liegt dir der heilige Tempel vor Augen, schwöre also hier, wenn du willst; denn die heilige Schwelle darfst du nicht betreten/ Jener erhob die Hände und sprach: ,Beim allmächtigen Gott und der Kraft des heiligen Martinus, seines Bischofs, ich habe dies Feuer nicht gelegt/ So schwur er, und als er heimkehrte, war es ihm, als ob er rings von Feuer umgeben sei. Er stürzte sogleich zur Erde und Hub an zu schreien, der heilige Bischof lasse ihn unter entsetzlichen Qualen verbrennen. ,Bei Gott/ rief der Elende aus, sich habe Feuer vom Himmel fallen sehen, daß es mich rings umgibt und mit seiner furchtbaren Glut versengt/ Und da er noch so sprach, hauchte er seinen Geist aus. Dies gereichte vielen zur Lehre, daß sie fortan nicht mehr an dieser Stätte falsch zu schwören wagten." Noch sehr vieles erzählte dieser Diakon von solchen Wundern, aber es scheint mir zu weit zu führen, alles hier zu wiederholen.
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Es handelt sich hier und im folgenden nicht um einen juristisch relevanten Eid, sondern um ein improvisiertes Beweisverfahren, dessen Ergebnis die Einleitung eines Rechtsverfahrenüberflüssig machen soll. ↩