LX. Kapitel: Daß wir andern ihre Schuld vergeben müssen, damit auch unsere Schuld Vergebung finde
Zu beachten ist hierbei, daß nur derjenige auf die rechte Art um Verzeihung seiner Sünden bittet, der zuvor verzeiht, was gegen ihn gefehlt wurde. Denn das Opfer wird nicht angenommen, wenn nicht vorher die Zwietracht aus dem Herzen verbannt wird, da die ewige Wahrheit sagt: „Wenn du deine Gabe zu dem Altare bringest und dich dort erinnerst, daß dein Bruder etwas wider dich hat, so laß deine Gabe allda vor dem Altare und geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe!”1 Da jede Schuld durch Opfer getilgt wird, so ist daraus zu entnehmen, wie groß die Sünde der Zwietracht ist, da ihretwegen das Opfer nicht angenommen wird. Mag S. 272 also unser Nächster sich auch in weiter Ferne von uns befinden, so müssen wir doch im Geiste zu ihm gehen, uns vor ihm erniedrigen und in Demut und Liebe ihn versöhnen, damit unser Schöpfer, der ein Opfer für die Schuld annimmt, uns von der Sünde losspreche, wenn er einen solchen Willensentschluß in uns sieht. Aus dem Mund der ewigen Wahrheit haben wir vernommen, daß der Knecht, der zehntausend Talente schuldete, Nachlaß seiner Schuld vom Herrn erhielt, weil er Buße tat, daß aber das Nachgelassene von ihm gefordert wurde, als er seinem Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete, die Schuld nicht nachließ.2 Aus diesen Worten geht hervor, daß wir wieder zur Rechenschaft über dasjenige gezogen werden, was uns schon zu unserer Freude durch die Buße erlassen wurde, wenn wir nicht von Herzen vergeben, was gegen uns gefehlt worden war. Solange uns also noch Frist gegeben ist, solange der Richter noch innehält, solange der, der die Schuld erforscht, noch auf unsere Bekehrung wartet, laßt uns die Härte unseres Herzens in Tränen erweichen, laßt uns Gnade und Liebe üben am Nächsten! Und zuversichtlich sage ich dann, daß wir nach dem Tode des heiligen Opfers nicht mehr bedürfen, weil wir vor dem Tode selbst Gott ein Opfer gewesen sind.