IV. Kapitel: Über die Stelle bei Salomo, wo es heißt: Ein Schicksal haben beide, der Mensch und das Tier
Gregorius. Das Buch Salomos, in dem dies geschrieben steht, wird Ekklesiastes genannt. Ekklesiastes aber heißt eigentlich Volksredner. Bei einer Volksrede aber wird ein Satz aufgestellt, um dadurch die Erregung des lärmenden Volkes zu beschwichtigen. Während die Volksmenge ganz verschiedene Meinungen hat, wird sie doch durch die Gründe des Redners zu einer einheitlichen Ansicht gebracht. Dieses Buch wird darum Volksredner genannt, weil Salomo darin gleichsam die Gesinnung des lärmenden Volkes aufgenommen hat, um untersuchungsweise solche Gedanken auszusprechen, die vielleicht ein unerfahrenes Gemüt in einer Anfechtung haben mag. Denn er nimmt gleichsam so viele verschiedene Personen in sich auf, als er verschiedene Meinungen vorbringt. Aber er bringt wie ein wahrer Volksredner mit ausgestreckter Hand allen Lärm zum Schweigen und bringt sie zu einer Ansicht, wenn er am Schluß desselben Buches sagt: „Lasset uns alle zusammen das Ziel aller Rede hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das macht vollkommen den Menschen.”1 Denn hätte er in diesem Buche mit seiner Redeweise nicht viele Personen angenommen, warum ermahnte er S. 190 dann alle zusammen, mit ihm das Ziel der Rede zu hören? Wenn er also am Ende des Buches sagt: „Lasset uns alle zusammen hören”, so ist er sich selbst Zeuge dafür, daß er viele Personen angenommen und er nicht als einziger gesprochen hat. Darum finden sich in dem Buch einerseits Gedanken, die untersuchungsweise angeregt werden, andrerseits solche, die an sich schon der Vernunft klar sind; und ferner einerseits solche Gedanken, die aus einem Herzen kommen, das sich in einer Versuchung befindet und noch den Lüsten dieser Welt ergeben ist, andrerseits aber auch Stellen, in denen das Vernunftgemäße erörtert wird, damit die Seele von der sinnlichen Lust abgezogen werde. Er sagt z. B. in dem Buch: „Also hab’ ich’s gefunden, daß der Mensch esse und trinke und Freude habe von seiner Arbeit.”2 Und weiter unten bemerkt er: „Besser ist es, in ein Trauerhaus zu gehen als in ein Haus des Freudenmahles.”3 Wenn aber Essen und Trinken etwas Gutes ist, so scheint es doch besser zu sein, in ein Haus des Freudenmahles zu gehen als in ein Haus der Trauer. An diesem Beispiel ist ersichtlich, daß er das erstere im Sinne der Schwachen vorbringt, das letztere aber als die Entscheidung der Vernunft anführt. Denn im unmittelbaren Anschluß daran führt er die Vernunftgründe auf und tut dar, was für einen Nutzen das Trauerhaus hat, wenn er sagt: „Denn in jenem wird man an das Ende aller Menschen erinnert, und der Lebende denkt an das, was kommen wird.”4 Wiederum heißt es in dem Buch: „Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend”,5 und bald darauf: „Jugend und Lust sind eitel.”6 Wenn er hier als Eitelkeit dartut, was er vorher scheinbar empfohlen hat, so zeigt er deutlich, daß er jene Worte anführte als Äußerung der fleischlichen Lust, diese aber als das Urteil der Wahrheit. Wie er also vorher die fleischliche Lust sprechen läßt und aller Sorgen vergessend erklärt, es sei gut, zu essen und zu trinken, nachher dies aber nach dem S. 191 Urteil der Vernunft tadelt, indem er sagt, es sei besser, in ein Haus der Trauer zu gehen als in ein Haus des Freudenmahls; und wie er zuerst im Sinne der fleischlich Gesinnten den Satz aufstellt, der Jüngling solle sich freuen in seiner Jugend, und doch später bestimmt urteilt, Jugend und Lust sei eitel, so stellt unser Volks redner eben auch im Sinne der Schwachen die Ansicht des menschlichen Pessimismus auf, wenn er sagt: „Der Mensch kommt um wie das Tier und ein Schicksal haben beide: Wie der Mensch stirbt, so stirbt auch dieses. Alle atmen auf gleiche Weise, und nichts hat der Mensch vor dem Tier voraus.”7 Er bringt aber später seine Meinung als Entscheidung der Vernunft vor, indem er sagt: „Was für einen Vorzug hat der Weise vor dem Toren? Was hat der Arme, als daß er dahin wandelt, wo das Leben ist?”8 Der also gesagt hat: „Nichts hat der Mensch vor dem Tier voraus”, erklärt selbst wieder, daß der Weise nicht bloß etwas vor dem Tiere, sondern auch vor dem Toren voraus habe, daß er nämlich dorthin gehe, wo das Leben ist. Mit diesen Worten zeigt er vor allem, daß nicht hier das Leben der Menschen ist, da es, wie er sagt, anderswo ist. Der Mensch hat also dies vor dem Tier voraus, daß dieses nach dem Tode nicht fortlebt, er aber dann erst zu leben anfängt, wenn er mit dem Tod dieses sichtbare Leibesleben beschließt. Weiter unten sagt er auch: „Tu eifrig, was immer deine Hand tun kann; denn in der Unterwelt, dahin du eilest, ist weder Werk, noch Vernunft, noch Wissenschaft, noch Weisheit.”9 Wie also kommt das Tier und der Mensch auf gleiche Weise um und wie haben beide ein Schicksal? Oder wie hat der Mensch nichts vor dem Tier voraus, da das Tier nach dem Tode des Fleisches nicht fortlebt, die Seelen der Menschen aber nach dem leiblichen Tode wegen ihrer bösen Werke in die Hölle kommen und auch im Tode nicht sterben? Beide so ungleichen Aussprüche zeigen, daß der Volksredner die Wahrheit spricht S. 192 und das eine im Sinne der fleischlichen Versuchung anführt, das andere aber im Sinne der geistigen Wahrheit.
Petrus. Nun ist mir lieb, daß ich das nicht wußte, um was ich fragte, da ich in so klarer Fassung lernen konnte, was ich nicht wußte. Aber ich bitte dich, ertrage mich geduldig, wenn auch ich bei dir nach der Art des Predigers die Rolle des Schwachen auf mich nehme, um eben diesen Schwachen noch mehr nützen zu können, indem ich gleichsam statt ihrer frage.
Gregorius. Warum soll ich es nicht gerne sehen, daß du zur Schwachheit des Nächsten herabsteigst, da Paulus spricht: „Allen bin ich alles geworden, um alle selig zu machen.”10 Da auch du dies aus liebevoller Herablassung tust, so bist du hierbei noch mehr zu loben, weil du den erhabenen Lehrer dir zum Vorbild nimmst.