Traktat XXVII. Zu Isaias. VI.1
1. Was der Prophet meint, wenn er forderte, daß der alte Weinberg, der vom Herrn in Ägypten gepflanzt worden war, nunmehr zu einem neuen sich entwickle, er- klärt schon die Überschrift des eben gelesenen Psalmes: sie lautet nämlich: „Zum Ende für diejenigen, die verwandelt werden.“2 Das Volk der Juden, das der alte Weinberg des Herrn genannt wurde, blühte zwar, aber seine Blüte wurde unglückseligerweise vernichtet, und es vermochte keine Früchte zu bringen. So brachte es statt Früchte Dornen, statt Trauben Herlinge. Da der Herr solche Unfruchtbarkeit verabscheute, pflanzte er nach seinem Willen sich einen anderen Weinberg, den Weinberg unseres Volkes, in den nunmehr alle Frucht, von der der Prophet spricht, übergegangen ist. Verzeihet, ihr seligen Pflanzer des Weinberges, mir, eurem Bebauer, da ich Rechenschaft ablege über den Weinberg, wenn meine Lässigkeit eurer Tüchtigkeit einen Eintrag getan!3
2. Wie ihr oftmals aufs beste euch erinnert, wird ein Zweig von einer bestimmten Größe als Setzling abge schnitten und in eine Grube eingesenkt, damit er dort durch die immer bei ihm bleibende Substanz der Feuch tigkeit der Erde belebt und genährt wird;4 es ist notwendig, ihm einen Stab aus Holz als Stütze beizugeben, durch dessen Schutz er sich halten und sich erheben kann. Ist S. 282 er sodann zu einem vollständigen Weinstock herangewachsen und bis zur Höhe des Joches emporgekommen, so werden alle seine überschüssigen Zweige mit dem Rebmesser abgeschnitten; das so gereinigte Stammholz wird auf ein Gerüst angebracht, mit Knoten daran befestigt, damit es nicht von dem Holze, durch das es getragen wird und durch dessen Stütze oder Führung es zur Erzielung reicher Früchte weiter ausgezogen wird, durch irgendeine Gewalt losgerissen wird. Alljährlich tränt er und tropft milde von seinem eigenen Tau und verrät in diesen fruchtbaren Tränen, daß er die Flüssigkeit des Mostes empfangen habe. Alsbald brechen die Augen auf, und strahlenförmige Blätter schießen hervor, und hinter ihnen lachen bald darauf zum Genuß einladend die Früchte, welche die Gluten der Sonne, die Regengüsse und die Winde in ihrer Entwicklung fördern und zur Reife bringen. Ist sodann die Zeit der Weinlese gekommen, ist der Blätterschmuck verweht, werden allenthalben die Trauben abgenommen und in der Kelter durch die Füße der Arbeiter getreten, sodann gepreßt und mit zwei Brettern so lange aufs stärkste gedrückt, bis alle Süßigkeit bis aufs Mark entleert ist. So wird das kostbare Naß von seinen eigenen Kelterern getrunken und in die Weinkeller des Hausvaters gebracht, wo es durch das Älterwerden noch an Güte gewinnt.
3. Soweit wir in unserer Armseligkeit eine geistige Deutung geben können, versteht man unter dem Setzling, der auf eine bestimmte Größe zugeschnitten ist, den Kompetenten (das heißt den die Taufe Begehrenden),5 der die vorgeschriebene Zahl der Prüfungen ab- S. 283 gelegt hat. Als die Grube (in die er eingesenkt wird) müssen wir den heiligen Taufquell fassen, der in einem wirklichen geheimnisvollen Heilmittel die Menschen als Tote aufnimmt, sie aber dann, wenn sie angehaucht sind, durch sein himmlisches Wasser zum Leben weckt. Die Stütze aus Holz, durch die der Weinstock gestreckt und getragen wird, ist ein Sinnbild des Kreuzes des Herrn, ohne das der Christ schlechthin nicht leben und die Unsterblichkeit erreichen kann. Wenn der Weinstock am Gerüst angebracht wird, so ist damit die Höhe seines Weges und Wandels zum Himmel empor angezeigt. Er wird mit Banden festgemacht, wenn er durch die heiligen Fragen zur Weltwidersagung und zum Bekenntnis des Glaubens geistiger Weise verpflichtet wird. Die überschüssigen Zweige werden mit dem Rebmesser abgeschnitten: das heißt, alle seine Sünden werden vollständig durch die Untertauchung und die Kraft des Heiligen Geistes weggenommen. Das gereinigte Stammholz des Weinstockes tränt in fruchtbarer Weise; beglückender noch fließen von dem Getauften die Ströme himmlischer Lehre, wenn die Augen geplatzt, das heißt geistiger Weise geöffnet sind. Am Weinstock folgt auf die Blätter einladend die Frucht. So wird auch der Christ durch den Gehorsam gegen die ihm vorschwebenden göttlichen Mah- S. 284 nungen, welche die Frucht des ewigen Lebens in sich bergen, geschützt und gefördert zugleich. Er kommt zum Joch, wenn er all sein Habe den Armen schenkt, sein Kreuz auf sich nimmt6 und so alle Gerechtigkeit erfüllt7 und völlig frei Christus nachfolgt. Der Weinstock bedarf zur Reife der Kraft des Sturmes, der Sonne, des Regens: so kommt auch der Gerechte durch große und viele Versuchungen aller Art zur Krone. Und wenn die Zeit der Weinlese kommt, das ist die Zeit der Verfolgung, so werden allenthalben die Trauben abgerissen, das heißt, an alle Heiligen8 wird gewaltsam Hand angelegt. Sie werden zur Kelter gebracht, nämlich an den Ort der Richtstätte geführt. Sie werden von den Arbeitern getreten, das heißt von den Verfolgern mit Schmach überhäuft, verhöhnt und getötet. Der Saft der Trauben wird zuletzt unter dem Druck der Presse und der beiden Bretter bis zum Trockenwerden ausgedrückt; so wird auch am Tag des Gerichtes von Christus nach den zwei Tafeln des Gesetzes Rache für das Blut der Bekenner bis zum letzten Heller gefordert. Die Keltertreter trinken von demselben Mostsaft; so kommt es oft vor, daß Verfolger christusgläubig werden und von dem kostbaren Kelche, den sie noch kurz vorher durch ihr Keltern (durch die Verfolgung) ausgegossen hatten, kosten, ja zuweilen sogar trinken. Der Most wird in dem Keller des Hausvaters geborgen, um durch solche Überführung9 noch kostbarer zu werden; so wird auch der Märtyrer in die heiligen Räume der Wohnung Gottes aufgenommen, um dort, vom S. 285 Menschen zum Engel gewandelt, sich der Seligkeit des ewigen Lebens zu freuen.
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Js. 5, 1-4. ↩
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Ps. 79, 1. ↩
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Es ist nicht ganz klar, wen Zeno hier im Auge hat, ob seine Zuhörer, soweit sie des Weinbergbaues kundig sind, oder ob frühere Bischöfe, die zuerst die Gemeinde gegründet haben, oder die Propheten, die nach dem Vorausgehenden von der Frucht sprachen, die auf den neuen Weinberg übergegangen ist. ↩
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Nach der Lesart Giuliaris: ... palmes ... demittitur, ut animatus ibidem genitalis humoris manente semper secum substantia nutriatur. (Ballerini;... animatus ibidem genitalis humor... nutriatur.) ↩
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Der Aufnahme in die christliche Kirche ging in der Zeit des Altertums und des Frühmittelalters eine längere Vorbereitung voraus, die Katechumenat genannt wurde. Sie gewann seit dem Ende des zweiten und anfangs des dritten Jahrhunderts eine immer reichere Entfaltung und erreichte im vierten und fünften Jahrhundert den Höhepunkt. Sie dauerte meist zwei bis drei Jahre und umfaßte die Unterweisung in der christlichen Lehre und dafür bestimmte Einrichtungen. War die Zeit der entfernteren Vorbereitung verstrichen, so meldeten sich die Katechumenen zum Empfang der Taufe, die meist in der Osternacht stattfand. Die Anmeldung selbst erfolgte gewöhnlich zu Beginn der Fastenzeit oder ein paar Wochen später. Von da ab hießen die Katechumenen im Orient gewöhnlich (πχουΧουσϖοτ (die vor der Erleuchtung [der Taufe] Stehenden), im Abendland competentes (die die Taufe Begehrenden). Auf diese letzten Wochen konzentrierten sich die wichtigsten Unterweisungen (Symbolum, Vaterunser), Bußübungen, Exorzismen und Zeremonien. Vgl. die Literatur im Artikel von J. A. Jungmann und J. Schmidlin: Katechumenat, in: Lexikon für Theologie und Kirche, V. (Freiburg i. Br. 1933), Sp. 884—888; L. E i -senhofer, Handbuch der katholischen Liturgik, II. (Freiburg i.Br. 1933), S. 244—250. ↩
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Vgl. Matth. 10, 38; 16, 24; Mark. 8, 34; Luk. 9, 23; 14, 27. ↩
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Vgl. Matth. 3, 15. ↩
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Nach der Lesart der Ballerini: sanctis omnibus violenta infertur manus (Giuliari: sanctis hominibus...). ↩
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Die Lesart der Ballerini: ut pretiosius transfusione red-datur, ist ohne handschriftliche Grundlage. Richtiger ist die Lesart Giuliaris: pretiosius transfretatione reddatur. Doch ist dabei kaum, wie er annimmt, an eine Versendung des rhätischcn Weines über das Meer in ausländische Lande zu denken. ↩