V. 6.
Erkenne also, in welche der drei oben angeführten Klassen die Frage gehört, die du in deiner Denkschrift gestellt hast. Du fragst nämlich mit folgenden Worten: „Was muß am Donnerstag“ in der letzten Fastenwoche geschehen? Muß man zuerst des Morgens das heilige Opfer darbringen und dann nach der Abendmahlzeit zum zweiten Male, weil geschrieben steht: ,Auf gleiche Weise nach dem Abendmahle’?1 Oder muß man den Tag hindurch fasten und nur nach der Abendmahlzeit das heilige Opfer darbringen? Oder muß man den Tag hindurch fasten und, wie bei uns gebräuchlich ist, erst nach dem heiligen Opfer die Abendmahlzeit genießen?“ Hierauf antworte ich also: Sollte einer dieser S. 214 drei Fälle durch das Ansehen der Heiligen Schrift gestützt werden, so müssen wir es zweifellos gerade so machen, wie dort geschrieben steht, und es kann in erster Reihe nicht die Frage sein, was zu tun ist, sondern wie wir das Geheimnis zu deuten haben. Ebenso verhält es sich, wenn einer dieser Gebräuche in der ganzen über den Erdkreis verbreiteten Kirche üblich ist; denn auch in diesem Falle wäre es Hochmut, ja Wahnsinn, noch darüber zu streiten, ob man es auch so machen müsse. Aber bei dem Gegenstand deiner Frage trifft weder das eine noch das andere zu. Er muß also zur dritten Gattung gehören, das heißt zu den nach Land und Ort verschiedenen Gebräuchen. Möge also jeder tun, was er in der Kirche vorfindet, zu der er gekommen ist. Keiner dieser Gebräuche enthält ja etwas gegen den Glauben oder die guten Sitten, noch trägt einer von ihnen etwas zur Verbesserung des Glaubens oder der Sitten bei. Nur aus solchen Gründen nämlich, das heißt wegen des Glaubens oder der guten Sitten, müßte abgeschafft werden, was nicht in der Ordnung ist, oder eingeführt werden, was bisher unterlassen wurde. Schon die Änderung eines Gebrauches selbst, auch wenn sie sonst von Nutzen ist, bringt doch als Neuerung einen Sturm hervor. Um so schädlicher ist also eine nutzlose Änderung, da sie ein unfruchtbares Gewitter erregt.
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Luk. 22, 20. ↩