V. 10.
Hier möchtest du vielleicht schon die Frage stellen, was denn eigentlich das glückselige Leben sei. An dieser Frage haben viele Philosophen ihren Scharfsinn und ihre Zeit vergeudet und doch ihre richtige Lösung um so weniger gefunden, je weniger sie der S. 503 Quelle des glückseligen Lebens Ehre erwiesen und ihr Dank gesagt haben. Bedenke also zuerst, ob man jenen zustimmen dürfe, die da sagen, glückselig sei der, der nach seinem Willen lebe. Aber ferne sei es von uns, dies für wahr zu hallen. Denn wie, wenn er etwa gottlos leben wollte? Ist er nicht erweislich um so unglücklicher, je leichter sein böser Wille sich erfüllt? Mit Recht haben diese Ansicht sogar diejenigen verworfen, die ohne Anbetung Gottes philosophische Studien getrieben haben. So spricht der Beredsamste aus ihnen das allerdings schöne Wort: „Sieh aber, andere, die zwar keine Philosophen, aber zum Disputieren bereit sind, behaupten, alle seien glückselig, die so leben, wie sie wollen. Das ist nun allerdings unrichtig; denn wollen, was sich nicht geziemt, ist selbst schon das größte Unglück. Auch ist es kein so großes Unglück, nicht zu erlangen, was man will, als erlangen zu wollen, was man nicht soll”1. Was hast du für eine Ansicht? Sind diese Worte nicht von der Wahrheit selbst durch irgendeinen Menschen gesprochen? Wir können also hier sagen, was der Apostel von einem Propheten aus Kreta2 sagte, dessen Ausspruch ihm gefiel: „Dieses Zeugnis ist wahrhaft”3.