11.
Derjenige ist also glücklich, der alles hat, was er will, aber nichts will, was sich nicht geziemt1. Wenn dem so ist, so beachte, was die Menschen alles wollen können, ohne daß es unziemlich ist. Der eine will verheiratet sein, der andere will, nachdem er Witwer geworden, von nun an enthaltsam leben, wieder ein anderer will auch in der Ehe von keinem Geschlechtsverkehr wissen. Und wenn auch hierbei das eine sich besser erweist denn das andere, so kann man doch von keinem aus diesen sagen, daß er etwas Unziemliches wolle. So verhält es sich auch mit dem Wunsche, Kinder S. 504 zu bekommen, als Frucht der Ehe nämlich, und mit dem Wunsche, daß diejenigen, die man bekommen hat, Leben und Gesundheit besitzen möchten. Diesen letzteren Wunsch hegen ja gewöhnlich auch Personen, die als Verwitwete enthaltsam sind. Denn wenn sie auch keine Ehe mehr wollen und deshalb nicht mehr wünschen, Kinder zu bekommen, so wünschen sie doch, daß ihre bereits geborenen Kinder sich wohl befinden. Die jungfräuliche Reinheit hingegen ist auch von dieser Sorge gänzlich frei. Alle besitzen jedoch teure Angehörige, denen sie ohne jede Ungebühr auch zeitliches Wohlergehen wünschen. Wenn aber die Menschen dieses Wohlergehen für sich und für jene, die sie lieben, erlangt haben, können wir sie dann etwa schon glückselig preisen? Sie besitzen dann etwas, was zu wollen nicht unziemlich ist; wenn sie aber andere, größere, bessere, an Nutzen und Ehre reichere Güter nicht besitzen, so sind sie noch weit entfernt vom glückseligen Leben.
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Damit führt Augustinus eine weitere Definition des glückseligen Lebens an, nicht seine eigene Ansicht. ↩