20.
Da in dieser Beziehung „die Gerichte Gottes überaus tief und unerforschlich und seine Wege unbegreiflich sind“1, so halte sich der Mensch vorläufig daran, daß bei Gott keine Ungerechtigkeit ist. Seine Unwissenheit aber muß der Mensch, eben weil er Mensch ist, gestehen; er kann es nicht durchschauen, aus welchen Billigkeitsgründen Gott sich erbarmt, wessen er will, und verhärtet, wen er will. Jedoch soll er wissen, daß gerade dessentwegen, was er unerschütterlich festhält: daß nämlich keine Ungerechtigkeit in Gott sich findet, niemand von ihm ohne Schuld verhärtet wird, obgleich niemand auf Grund vorausgehender Verdienste gerechtfertigt wird. Fromm und wahrheitsgemäß glaubt man nämlich, daß Gott die Bösen und Gottlosen in der Rechtfertigung von den verdienten Strafen befreit; wenn aber jemand glaubt, daß Gott einen verdammt, der es nicht verdient und keiner Sünde schuldig ist, so hält man die Ungerechtigkeit von Gott nicht ferne. Wird also ein Ungerechter gerettet, so schuldet man um so größere Dankbarkeit, je gerechter die Strafe war, die man verschuldet hatte; würde aber jemand verdammt, ohne es verdient zu haben, so würde S. 646 in gleicher Weise die Barmherzigkeit und die Wahrheit zu Schaden kommen.
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Röm. 11, 33. ↩