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Es ist aber merkwürdig, in welche Abgründe sie aus Furcht vor den Netzen der Wahrheit sich stürzen, wenn sie von diesen Schwierigkeiten sich eingeengt sehen. „Deshalb“, sagen sie, „haßte Gott den einen der noch Ungeborenen und liebte den anderen, weil er ihre zukünftigen Werke voraussah.“ Wer sollte sich nicht wundern, daß diese höchst scharfsinnige Lösung dem Apostel entgangen ist? Er hat wirklich dies nicht gesehen, da er auf den gegnerischen Einwurf, den er sich selbst macht, nicht diese so kurze, klare und — wie jene glauben — so richtige und vollständige Antwort gegeben hat. Denn nachdem er es als etwas Staunenswertes bezeichnet hatte, wie man nämlich von noch nicht Geborenen, die noch nichts Gutes oder Böses getan hatten, zutreffend sagen könne, daß Gott den einen geliebt, den anderen gehaßt habe, macht er sich selbst einen Einwurf und drückt die Gemütsbewegung des Zuhörers mit folgenden Worten aus: „Was werden wir also sagen? Ist etwa eine Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne!“1 Hier wäre es am Platze gewesen, auszusprechen, was jene meinen: „Gott sah ihre zukünftigen Werke voraus, als er sagte, daß der Ältere dem Jüngeren dienen werde.“ Der Apostel sagt dies aber nicht, sondern seine Absicht war vielmehr, mit seinen Worten die Gnade und Herrlichkeit Gottes hervorzuheben, damit niemand sich S. 705 des Verdienstes seiner Werke zu rühmen wage. Nachdem er nämlich gesagt hat: „Ferne sei es, daß Ungerechtigkeit sich bei Gott findet“, nimmt er an, daß wir ihm erwidert hätten: „Wie beweist du dieses, da nach deiner Behauptung nicht um der Werke, sondern um des Berufenden willen gesagt ist: ,Der Ältere wird dem Jüngeren dienen'.“ Hierauf erwidert er also: „Zu Moses spricht Gott: ,Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmt haben werde, und Barmherzigkeit werde ich verleihen, wem ich barmherzig gewesen sein werde'2. Also ist es nicht Sache dessen, der will oder läuft, sondern des sich erbarmenden Gottes“3. Wo bleiben da die Verdienste, wo vergangene oder zukünftige Werke, die durch die Kraft des freien Willens vollbracht worden sind oder noch vollbracht werden sollen? Spricht hier nicht der Apostel ganz deutlich seine Meinung aus zum Preise der unverdienten, das heißt der wahren Gnade? „Hat Gott nicht zu Torheit gemacht die Weisheit“4 der Irrlehrer?