22.
Wie kann man sagen, manchen kleinen Kindern werde vor ihrem Tode die Gnade Gottes deshalb gegeben oder nicht gegeben, weil Gott die zukünftige Gesinnung voraussieht, die sie im Falle längeren Lebens haben würden? Denn jeder Mensch wird gemäß dessen, was er im Leibesleben getan hat, nicht gemäß dessen, was er im Falle längeren Lebens getan hätte, ein gutes oder schlimmes Los nach der Lehre des Apostels empfangen. Wie können die Menschen gerichtet werden nach ihrer zukünftigen Willensrichtung, die sie, wie man sagt, gehabt hätten, wenn sie länger am Leben geblieben wären, da doch die Schrift sagt: „Glückselig die Toten, die im Herrn sterben“1. Ohne Frage steht ihre Glückseligkeit nicht fest und sicher, wenn Gott auch über das richten wird, was sie nicht getan haben, sondern getan hätten, wenn ihr Leben länger gedauert hätte. Dann S. 785 empfängt auch keine Wohltat, wer hinweggenommen wird, „damit die Bosheit seinen Sinn nicht ändere“, denn er wird auch für jene Bosheit bestraft, vor der er vielleicht nur durch seinen schnellen Hingang bewahrt worden ist. Dann dürfen wir uns auch nicht über diejenigen freuen, von denen wir wissen, daß sie im wahren Glauben nach einem guten Leben verstorben sind; denn sie könnten etwa wegen Sünden gerichtet werden, die sie begangen hätten, wenn sie am Leben geblieben wären. Dann sind auch jene nicht zu beklagen und zu verabscheuen, die dieses Leben in Unglaube und Sittenlosigkeit beschlossen haben, denn vielleicht hätten sie Buße getan und ein frommes Leben geführt, wenn sie am Leben geblieben wären, und danach müßten sie gerichtet werden. Dann muß man das ganze Buch des ruhmvollen Märtyrers Cyprianus „Von der Sterblichkeit“ verdammen und verwerfen; denn dessen ganzer Zweck ist nur darauf gerichtet, daß wir wissen, man müsse den guten Gläubigen zu ihrem Tode Glück wünschen, daß sie den Versuchungen dieses Lebens entzogen werden und von da an in Seligkeit und Sicherheit verharren. Da jene Meinung jedoch falsch ist und ohne Zweifel „die Toten selig sind, die im Herrn sterben“, so ist es ein lächerlicher lind abscheulicher Irrtum, wenn man glaubt, daß die Menschen nach ihrer zukünftigen Gesinnung, die für die Sterbenden keine zukünftige ist, gerichtet werden.
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Offenb. 14, 13. ↩