6.
Denn warum glauben sie, jener Stelle ohne Unterscheidung als einem Gebote gehorchen zu müssen, wenn es heißt, man solle von einer Stadt in die andere fliehen? Warum schreckt sie der Mietling nicht, der „den Wolf kommen sieht und flieht, weil ihm an den Schafen nichts liegt“?1 Warum suchen sie jene beiden Aussprüche des Herrn, die beide gleich wahr sind und von denen der eine die Flucht gestattet oder befiehlt, der andere sie tadelt und als schuldbar erklärt, nicht in solchem Sinne aufzufassen, daß sie sich, wie es auch tatsächlich der Fall ist, nicht als Widersprüche erweisen? Dies wird sich zeigen, wenn man beachtet, was ich schon vorher erörtert habe, daß nämlich die Diener Christi beim Ausbruch einer Verfolgung dann aus ihren Wohnsitzen fliehen müssen, wenn sich dort kein christliches Volk mehr befindet, dem zu dienen wäre, oder wenn sich zwar Volk dort befindet, aber der notwendige Dienst auch durch andere geleistet werden kann, die nicht die gleiche Ursache zur Flucht haben. So floh, wie vorher erwähnt, der Apostel in einem Korb, da gerade er von dem Verfolger aufgesucht wurde und andere sich nicht in gleicher Not befanden und gar nicht die Absicht hegten, sich dem Dienste der dortigen Kirche zu entziehen. So floh der heilige Athanasius, Bischof von Alexandria, da der Kaiser Konstantes2 gerade ihn ganz besonders gefangen haben wollte und das katholische Volk, das in Alexandria zurückblieb, keineswegs anderer Seelsorger entbehrte. Wenn aber das Volk bleibt und die Seelsorger fliehen und sich ihrem Dienste entziehen, was ist dies anders als jene verdammenswerte Flucht der Mietlinge, die sich um die Schafe nicht kümmern? Denn es S. 807 wird der Wolf kommen, nicht ein Mensch, sondern der Teufel, der meistens jene Gläubigen zum Abfalle verleitet, denen die tägliche Darbringung des Leibes Christi3 gefehlt hat. Und so wird der Schwache zugrunde gehen in deiner nicht Wissenschaft, sondern Unwissenheit, der Bruder, für den Christus gestorben ist4.
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Joh. 10. 12 und 13. ↩
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337—361. ↩
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Cotidianum ministerium dominici corporis. Da Augustinus im Briefe an Januarius (Brief 54 Kap. 4) den täglichen Empfang des Leibes Christi keineswegs fordert, hier aber die Unterlassung des täglichen Ministeriums des Leibes Christi als Ursache der Apostasie betrachtet, so ist ersichtlich, daß hier Augustinus die Feier der heiligen Messo meint, wodurch täglich Gelegenheit zum Empfange der heiligen Eucharistie gegeben und jedenfalls die Gnade Gottes auf das Volk herabgezogen wird. ↩
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Nach 1Kor. 8, 11. ↩