9.
Der erste Grad der Freiheit besteht darin, von Verbrechen frei zu sein1. Gebt acht, meine Brüder, gebt acht, ob ich euch nicht etwa zum Bewußtsein bringen kann, wie diese Freiheit jetzt beschaffen ist und wie sie in der Zukunft beschaffen sein wird. Du magst einen auch in hohem Grade Gerechten in diesem Leben prüfen, er ist, wenn er auch den Namen eines Gerechten verdient, dennoch nicht ohne alle Sünde. Höre den heiligen Johannes selbst, von dem auch dieses Evangelium stammt, wie er in seinem Briefe sich ausdrückt: „Wenn wir sagen“, schreibt er, „daß wir keine Sünde haben, so täuschen wir uns selbst, und Wahrheit ist nicht in uns“2. Dies könnte allein der „Freie unter den Toten“ (siehe oben Nr. 7) sagen, von ihm allein konnte man es sagen, der die Sünde nicht kannte; nur von ihm konnte man es sagen; denn er hat alles in ähnlicher Weise erfahren wie wir, die Sünde ausgenommen3. Er allein konnte sagen: „Siehe, er wird kommen der Fürst dieser Welt, und er wird an mir nichts finden“. Wen immer du auch prüfen magst, sei er auch gerecht, er ist nicht durchaus ohne Sünde; auch nicht einer wie Job, dem der Herr ein solches Zeugnis gab, daß der Teufel ihm neidig wurde und ihn zu versuchen verlangte, ihn versuchend aber überwunden wurde, damit jener bewährt würde4. S. 613 Bewährt aber wurde er; nicht deshalb weil er als ein der Krönung Würdiger Gott unbekannt gewesen wäre, sondern damit er den Menschen als ein nachahmungswürdiges Beispiel bekannt würde. Und was sagt Job selbst? „Wer ist denn rein? Nicht einmal das Kind, dessen Leben erst einen Tag währt auf Erden“5. Aber sicher viele sind gerecht genannt worden ohne Tadel, was dahin zu verstehen ist: ohne Verbrechen; denn kein gerechter Tadel hat in menschlichen Dingen betreffs solcher statt, die kein Verbrechen auf sich haben. Ein Verbrechen (crimen) aber ist eine schwere Sünde (peccatum grave), die mit vollem Rechte Anklage und Verdammung verdient. Gott verdammt also nicht einige Sünden, während er andere rechtfertigt und lobt; er lobt keine Sünde, haßt vielmehr alle. Wie der Arzt das Übelbefinden des Kranken haßt und durch seine Tätigkeit darauf ausgeht, die Krankheit zu vertreiben, dem Kranken Erleichterung zu verschaffen, so wirkt Gott durch seine Gnade in uns darauf hin, die Sünde zu beseitigen, den Menschen zu befreien. Aber wann wird sie beseitigt, wirst du sagen? Wenn sie vermindert wird, warum wird sie nicht beseitigt? Vermindert aber wird im Leben der Voranschreitenden das, was beseitigt wird im Leben der Vollkommenen.