10.
Der erste Grad der Freiheit also besteht darin, von Verbrechen frei sein. Darum hat auch der Apostel Paulus, als er die zu Priestern oder Diakonen zu Weihenden oder wer immer zur kirchlichen Vorstandschaft bestellt werden sollte, auswählte, nicht gesagt: Wenn jemand ohne Sünde ist; denn würde er so sagen, dann würde jeder Mensch beanstandet, keiner geweiht werden, sondern er hat gesagt: „Wenn jemand ohne Verbrechen ist“1, wie Mord, Ehebruch, irgendeine (bliqua) Unreinigkeit der Hurerei, Diebstahl, Betrug, Sakrilegium und anderes derart. Wenn der Mensch anfängt, davon frei zu sein (es soll aber jeder Christ davon frei sein), S. 614 dann fängt er an, das Haupt zur Freiheit zu erheben, aber dies ist bloß die beginnende, nicht die vollendete Freiheit. Warum ist es, sagt einer, nicht die vollendete Freiheit? Weil „ich ein anderes Gesetz in meinen Gliedern sehe, das dem Gesetze meines Geistes widerstreitet; denn nicht, was ich will“, sagt er, „tue ich, sondern was ich hasse, das tue ich“2. „Das Fleisch“, sagt er, „gelüstet wider den Geist, und der Geist wider das Fleisch, daß ihr nicht das tut, was ihr wollt“3. Zum Teil Freiheit, zum Teil Knechtschaft; noch keine ganze, keine reine, keine vollständige Freiheit, weil noch nicht die Ewigkeit. Denn zum Teil liegt auf uns Schwachheit, zum Teil haben wir die Freiheit erlangt. Was immer von uns gesündigt worden ist, ist ehedem getilgt worden in der Taufe. Ist etwa, weil alle Ungerechtigkeit getilgt wurde, keine Schwachheit zurückgeblieben? Wenn keine zurückgeblieben wäre, würden wir hier ohne Sünde leben. Wer aber möchte sich unterstehen, dies zu sagen, außer ein Hochmütiger, außer wer der Barmherzigkeit des Erlösers unwürdig ist, außer wer sich selbst betrügen will und in dem keine Wahrheit ist? Also deshalb weil eine gewisse Schwäche zurückgeblieben ist, wage ich zu sagen: Soweit wir Gott dienen, sind wir frei, soweit wir dem Gesetze der Sünde dienen, sind wir noch Knechte. Darum sagt der Apostel, was wir zu sagen angefangen hatten: „Ich habe Freude am Gesetze Gottes dem inneren Menschen nach“4. Siehe, inwiefern wir frei sind, inwiefern wir Freude haben am Gesetze Gottes; die Freiheit bringt nämlich Freude. Denn solange du aus Furcht tust, was gerecht ist, erfreut dich Gott nicht5. Solange du es noch als Knecht tust, freut es dich nicht; es möge dich freuen, und du bist frei. Fürchte nicht die Strafe, sondern liebe die Gerechtigkeit. Kannst du die Gerechtigkeit noch nicht lieben? Fürchte wenigstens die Strafe, damit du zur Liebe der Gerechtigkeit gelangest.