10. Kapitel. In welcher Weise übergibt Christus das Reich dem Vater?
20. Unser Herr Jesus Christus wird also die Herrschaft, nicht als ob er selber oder der Heilige Geist davon ausgeschlossen würde, Gott dem Vater übergeben, wenn er die Gläubigen zur Schau Gottes führt, welche das Endziel all unserer guten Taten ist, unsere ewige Ruhe und die Freude, die nie von uns genommen werden wird. Das drückt er mit dem Worte aus: „Wiederum werde ich euch sehen, und euer Herz wird sich S. 31 freuen, und eure Freude wird niemand von euch nehmen.“1 Ein Gleichnis dieser Freude bot im voraus die zu den Füßen des Herrn sitzende und auf sein Wort achtende Maria dar; sie ruhte von jedem Tun und achtete auf die Wahrheit nach einer Art, deren dieses Leben fähig ist; dadurch wurde das zukünftige, in Ewigkeit währende Leben im voraus dargestellt. Während sich nämlich Martha, ihre Schwester, der Beschäftigung mit dem Notwendigen hingab, die, so gut und nützlich sie ist, doch, wenn die Ruhe nachfolgt, vorübergehen wird, ruhte sie im Worte des Herrn. Daher sagte der Herr zu Martha, als sie sich beklagte, daß ihre Schwester ihr nicht helfe: „Maria hat den besten Teil erwählt, der von ihr nicht wird genommen werden.“2 Nicht einen schlechten Teil nannte er, was Martha trieb; aber den anderen nannte er den besten, der nicht wird genommen werden. Denn jede Beschäftigung im Dienste der Notdurft des Lebens wird, wenn die Notdurft selber vergeht, genommen werden. Für das gute Werk nämlich, das vorübergeht, ist der Lohn die Ruhe, die bleiben wird. In jener Beschauung also wird Gott alles in allem sein, weil nichts anderes mehr von ihm verlangt werden wird, sondern von ihm allein erleuchtet werden und ihn genießen genug sein wird. Daher sagte jener, in dem der Heilige Geist mit unaussprechlichen Seufzern fleht:3 „Eines habe ich vom Herrn verlangt, dieses suche ich: daß ich wohne im Hause des Herrn alle Tage meines Lebens, auf daß ich die Freude des Herrn schaue.“4 Wir werden nämlich Gott den Vater und Sohn und Heiligen Geist schauen, wenn der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, das Reich Gott dem Vater übergibt, so daß nicht mehr für uns bittet unser Mittler und Priester, der Sohn Gottes und der Sohn des Menschen, sondern auch er selber, sofern er Priester ist — er wurde es, indem er unsertwegen Knechtsgestalt annahm —, dem unterworfen ist, S. 32 der ihm alles unterworfen hat und dem er alles unterworfen hat; er wird daher, sofern er Gott ist, mit dem Vater über uns, die ihm Unterworfenen, herrschen; sofern er Priester ist, wird er dem Vater mit uns unterworfen sein. Wenngleich sonach der Sohn Gott und Mensch ist, so ist doch die Substanz, welche den Menschen im Sohne begründet, in höherem Maße verschieden von der Substanz, durch die der Sohn im Vater ist, als die Substanz des Vaters und Sohnes, wie der Leib meiner Seele eine Wesensbeschaffenheit aufweist, die von jener der Seele in höherem Maße verschieden ist, als die Wesensbeschaffenheit der Seele eines anderen Menschen von meiner Seele verschieden ist, obwohl Leib und Seele in einem Menschen sind.
21. „Wenn er“ also „das Reich Gott dem Vater übergeben“, das heißt, wenn er die Glaubenden und aus dem Glauben Lebenden, für welche er jetzt als Mittler fleht, zur Anschauung geführt hat, nach deren Ergreifung wir seufzen und weinen, und wenn Mühen und Seufzen vergangen sind, dann wird er nicht mehr für uns flehen, da ja dann Gott dem Vater das Reich übergeben ist. Darauf weist er mit den Worten hin: „Das habe ich in Gleichnissen zu euch gesprochen. Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Gleichnissen zu euch sprechen, sondern euch offen vom Vater Kunde geben werde.“5 Das heißt: es wird keine Gleichnisse mehr geben, wenn das Schauen von Angesicht zu Angesicht eintritt. Das meint er nämlich mit dem Worte: „sondern ich werde euch offen vom Vater Kunde bringen“. Das ist soviel, wie wenn er sagen würde: Ich werde euch den Vater offen zeigen. „Ich werde Kunde geben“, sagt er ja, weil er sein Wort ist. Er fährt nämlich fort und sagt: „An jenem Tage werdet ihr in meinem Namen bitten, und ich sage euch nicht, daß ich den Vater für euch bitten werde; denn der Vater liebt euch, weil ihr mich geliebt und geglaubt habt, daß ich von Gott ausgegangen bin. S. 33 Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“6 Was heißt: „Ich bin vom Vater ausgegangen“ anderes als: Nicht in der Gestalt, in der ich dem Vater gleich bin, sondern anders, das heißt in der angenommenen geschöpflichen Gestalt bin ich als ein Geringerer denn der Vater erschienen. Und was heißt: „Ich bin in diese Welt gekommen“ anderes als: Die Knechtsgestalt, welche ich, mich erniedrigend, annahm, habe ich auch den Augen der Sünder, welche diese Welt lieben, gezeigt? Und was heißt: „Ich verlasse die Welt wieder“ anderes als: Den Blicken der Liebhaber der Welt entziehe ich, was sichtbar an mir ist? Und was heißt: „Ich gehe zum Vater“ anderes als: Ich lehre meine Gläubigen, das an mir zu sehen, worin ich dem Vater gleich bin? Diejenigen, welche daran glauben, werden für würdig befunden werden, vom Glauben zum Schauen zu gelangen, das heißt zu jener Anschauung, deren Herbeiführung gemeint ist, wenn es vom Sohne heißt, daß er Gott dem Vater das Reich übergeben wird. Seine Gläubigen, welche er mit seinem Blute erlöst hat, heißen ja sein Reich — jetzt fleht er für sie, dann aber wird er dort die Gläubigen sich anhangen lassen, sofern er dem Vater gleich ist, und nicht mehr den Vater für sie bitten. „Denn der Vater selbst“, sagt er, „liebt euch.“ Er bittet ja, sofern er geringer ist als der Vater. Sofern er aber gleich ist, erhört er gemeinsam mit dem Vater. Daher schließt er von den Worten: „Der Vater selbst liebt euch“ sich selbst naturgemäß nicht aus; vielmehr will er sie so verstanden wissen, wie ich oben schon angab; ich habe ja schon hinreichend darauf hingewiesen, daß häufig von einer einzelnen Person der Dreieinigkeit in der Weise die Rede ist, daß auch die anderen mitverstanden werden. So also ist das Wort: „Denn der Vater selbst liebt euch“ gemeint, daß auch Sohn und Heiliger Geist dabei mitverstanden werden, nicht als ob uns der S. 34 Vater jetzt nicht lieben würde — hat er doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns hingegeben,7 sondern weil Gott uns als solche liebt, wie wir sein werden, nicht wie wir jetzt sind. Wie er uns nämlich liebt, so wird er uns in Ewigkeit bewahren; das wird geschehen, wenn er „Gott dem Vater das Reich übergibt“, er, der jetzt für uns fleht, so daß er nicht mehr für uns den Vater bitten wird, weil der Vater uns selber liebt. Auf Grund welchen Verdienstes als des Verdienstes des Glaubens, durch den wir glauben, bevor wir das, was uns verheißen ist, schauen? Durch ihn nämlich werden wir eine solche Gestalt gewinnen, daß Gott uns als solche liebt, zu denen seine Liebe uns formt, nicht als solche, wie wir seinem Hasse verfallen sind; er gibt uns Mahnung und Hilfe, daß wir nicht immer so bleiben wollen.