1. Kapitel. Der Liebe zum Wissen geht irgendeine Kenntnis voraus.
S. 67 1. Jetzt soll unsere Aufmerksamkeit geschärfter an die folgerichtige, deutlichere Erklärung dieser Fragen herantreten. Erstlich nun muß man, weil niemand eine vollständig unbekannte Sache irgendwie lieben kann, sorgfältig zusehen, welcher Art die Liebe der wissenschaftlich sich Mühenden ist, das heißt derer, die eine bestimmte Lehre noch nicht kennen, aber bereits kennenzulernen wünschen. Zu jenen Dingen also, bei denen man gewöhnlich nicht von wissenschaftlichem Bemühen spricht, scheint die Liebesneigung zu entstehen aus dem Hören, wenn nämlich durch das Gerücht von irgendeiner Schönheit die Seele zum Sehen und Genießen entflammt wird, weil sie die Schönheit der Körper im allgemeinen kennt — sie hat ja viel Schönes gesehen — und ihr innerlich die Norm innewohnt, nach der das gebilligt wird, nach dessen äußerem Besitz sie lechzt. Wenn das geschieht, dann wird nicht die Liebe zu einer gänzlich unbekannten Sache erregt, da ja deren Art in der geschilderten Weise bekannt ist. Wenn wir aber einen guten Mann lieben, dessen Antlitz wir nicht gesehen haben, dann lieben wir ihn auf Grund der Kenntnis S. 68 der Tugenden, die wir in der Wahrheit selbst kennen. Für die Erkenntnis von wissenschaftlichen Lehren aber entflammt uns meist das Ansehen jener, die sie rühmen und vertreten. Freilich, trügen wir nicht den Begriff einer jeden Wissenschaft flüchtig eingeprägt in der Seele, dann würden wir nie in Eifer entbrennen, sie kennenzulernen. Wer würde zum Beispiel auch nur die geringste Sorgfalt und Mühe auf die Erlernung der Redekunst verwenden, wenn er nicht zuvor wüßte, daß sie die Wissenschaft vom Reden ist? Manchmal ergreift uns auch Bewunderung für das Endziel der Wissenschaften selbst, von dem wir aus Erzählung oder Erfahrung wissen; wir werden so dazu entflammt, uns durch Lernen ihre Beherrschung anzueignen, damit wir so zu diesem Endziel gelangen können. Wenn man etwa jemandem, der die Buchstaben nicht kennt, erklärt, daß es wissenschaftliche Kenntnisse gibt, auf Grund deren jeder einem auch noch so weit entfernten Menschen Worte schicken kann, die er ganz im stillen mit seiner Hand bildete, die andererseits der Empfänger nicht mit seinen Ohren, wohl aber mit den Augen aufnimmt, und wenn er dies nun vor sich gehen sieht: wird so einer nicht, wenn er diese Kunst zu erlernen wünscht, zu all seinem Eifer um jenes Endziel bewegt eben von der Kenntnis, die er von ihm schon hat? So wird der wissenschaftliche Eifer der Lernenden entflammt. Was einer nämlich ganz und gar nicht kennt, kann er in keiner Weise lieben.
2. So ist es auch, wenn jemand ein unbekanntes Zeichen hört, zum Beispiel den Klang eines Wortes, dessen Bedeutung er nicht kennt: er wünscht zu wissen, was es sei, das heißt, an welchen Gegenstand zu erinnern jener Klang bestimmt sei, so wenn er etwa das Wort temetum hört, es nicht kennt und nachfragt, was es bedeute. Er muß also vorher schon wissen, daß es ein Zeichen ist, das heißt, daß es nicht ein leerer Laut S. 69 ist, sondern daß es etwas bedeutet. Abgesehen davon ist ihm schon bekannt, daß es sich um etwas Dreisilbiges dreht; dies prägt der Seele durch den Gehörsinn seine gegliederte Gestalt ein. Was ist nun noch weiter erforderlich, damit etwas, dessen einzelne Buchstaben und Klangteile alle bekannt sind, noch weiter erkannt werde? Was anderes, als daß zugleich erkannt werde, daß es ein Zeichen ist und daß es das Verlangen anregte, zu wissen, auf welche Wirklichkeit jenes Zeichen hinweist? Je umfassender also etwas bekannt ist, um so mehr verlangt die Seele, wenn es nur noch nicht voll gekannt wird, den Rest von ihm zu kennen. Wenn sie nämlich nur wüßte, daß es sich um jenen Klanglaut handelt, nicht aber wüßte, daß er Zeichen einer bestimmten Wirklichkeit ist, dann würde sie, wenn sie, so gut sie kann, den sinnfälligen Gegenstand in der Wahrnehmung erfaßt hat, nichts weiter suchen. Weil sie aber weiß, daß es sich nicht bloß um einen Klanglaut handelt, sondern daß dieser zugleich ein Zeichen ist, will sie vollkommene Kenntnis gewinnen. Kein Zeichen nun kennt man vollkommen, wenn man nicht erkennt, welche Wirklichkeit es bezeichnet. Wenn jemand brennende Sorge darauf verwendet, dies zu kennen, und von Eifer entflammt darauf besteht, kann man von dem sagen, daß er ohne Liebe ist? Was also liebt er? Sicherlich kann ja nur Bekanntes geliebt werden. Er liebt natürlich nicht jene drei Silben, von denen er schon Kenntnis hat. Wenn er an ihnen den Umstand liebt, daß sie, wie er weiß, etwas bezeichnen, dann dreht es sich jetzt darum nicht. Denn dies ist es nicht, was er zu kennen sucht. Wir wollen vielmehr herausbringen, was er an jener Wirklichkeit liebt, um deren Wissen er sich erst bemüht. Er kennt sie tatsächlich noch nicht; und deshalb wundern wir uns, daß er sie liebt, da wir ja aufs bestimmteste wissen, daß nur Bekanntes geliebt werden kann. Woher anders also kommt seine Liebe als daher, daß er in den Wesensgründen der Dinge weiß S. 70 und schaut, wie groß die Schönheit einer Wissenschaft ist, welche die Kenntnis aller Zeichen in sich schließt, und wie groß der Nutzen jenes Könnens ist, durch das die menschliche Gemeinschaft ihre Anschauungen sich gegenseitig mitteilt, damit für sie das menschliche Zusammenleben nicht schlimmer sei als irgendeine Einsamkeit, wenn die Menschen ihre Gedanken im Gespräch nicht austauschen könnten. Diese schöne und nützliche Form also schaut, kennt und liebt die Seele; sie in sich zur Vollendung zu bringen, so gut man kann, müht sich, wer immer die Bedeutung der Laute zu erforschen sucht, die er nicht kennt. Etwas anderes ist es nämlich, wenn jemand diese Form im Lichte der Wahrheit erblickt, etwas anderes, wenn er sie in seinem eigenen Können zu besitzen wünscht. Im Lichte der Wahrheit erblickt er nämlich, wie gut und groß es ist, alle Sprachen aller Völker zu verstehen und zu sprechen, keine als fremde zu vernehmen und selbst so zu sprechen, daß niemand einem den Fremden anmerkt. Das Herrliche einer solchen Kenntnis wird im Denken schon geschaut und als bekannte Sache geliebt. Diese wird nun so erblickt und entflammt so sehr den Eifer der Lernenden, daß sie ihretwegen in Bewegung geraten und in jeder Mühe, die sie für die Erlangung eines solchen Könnens aufwenden, nach ihr lechzen, daß sie sich auch in praktischer Übung mit dem befassen, was sie verstandesmäßig schon kennen; und so entbrennt, wer solchem Können in Hoffnung sich nähert, um so glühender in Liebe hierzu. Nach jenen Wissenschaften trachtet man ja mit heftigerem Eifer, an deren Erlangung man nicht verzweifelt. Wenn nämlich jemand gar keine Hoffnung hat, eine Sache zu erlangen, so liebt er sie nur lau oder er liebt sie gar nicht, so sehr er auch ihre Schönheit sieht. Weil daher fast niemand hofft, alle Sprachen beherrschen zu können, bemüht sich jedermann mit allem Eifer, vor allem die Sprache seines Volkes zu kennen. Wenn man sich auch für die vollkommene Aneignung S. 71 der Sprache des eigenen Volkes nicht gewachsen fühlt, so ist doch niemand gegen diese Kenntnis so gleichgültig, daß er, wenn er ein unbekanntes Wort hört, nicht wissen will, was es bedeutet, und, wenn er kann, nicht darnach fragt und es lernen will. Wenn jemand so fragt, dann ist er sicherlich eifrig bemüht, zu lernen, und er scheint eine unbekannte Sache zu lieben. In Wirklichkeit ist es aber nicht so. Denn an die Seele rührt jene Form, die von ihr gekannt und gedacht wird, in welcher die Herrlichkeit der Gemeinschaft aufleuchtet, zu der die Seelen im Hören und Erwidern bekannter Lautzeichen verbunden werden. Sie ist es, die jenen entzündet, der zwar in Eifer sucht, was er nicht weiß, aber dabei die Form kennt, schaut und liebt, zu deren Bereich jenes Unbekannte gehört. Wenn also jemand zum Beispiel fragt, was temetum sei — dies Beispiel hatte ich ja gewählt —, und man ihm sagt: Was geht das dich an? dann wird er erwidern: Ich möchte nicht etwa jemanden dies Wort aussprechen hören und es nicht verstehen oder es irgendwo vielleicht lesen und nicht wissen, was der Schriftsteller damit meinte. Wer möchte etwa einem solchen sagen: Verzichte darauf zu verstehen, was du hörst, zu wissen, was du liest? Fast alle verstandesbegabten Seelen sehen ja sogleich die Schönheit jener Kenntnisse, auf Grund deren die Menschen gegenseitig ihre Gedanken durch die Aussprache von bedeutungserfüllten Worten voneinander erfahren. Um dieser Herrlichkeit willen, die man kennt und die man liebt, weil man sie kennt, sucht man eifrig nach jenem unbekannten Worte. Wenn man nun hört und erfährt, daß temetum bei den Alten Wein hieß, daß aber das Wort jetzt in unserem Sprachgebrauch nicht mehr vorkommt, dann wird man doch die Kenntnis dieses ausgestorbenen Wortes vielleicht wegen einiger alter Bücher für notwendig erachten. Wenn man sie aber auch so für überflüssig hält, dann wird man es vielleicht auch nicht mehr für der Mühe wert halten, das Wort dem Gedächtnis S. 72 einzuprägen, weil man sieht, daß es in keiner Weise zu jener Art von Kenntnissen gehört, die man im Geiste als etwas Bekanntes schaut und liebt.
3. Daher ist alle Liebe einer eifrig sich mühenden Seele, das heißt eines Menschen, der wissen will, was er nicht weiß, nicht Liebe zu einem Gegenstande, den er nicht kennt, sondern zu einem Gegenstande, den er kennt und um dessentwillen er wissen will, was er noch nicht weiß. Wenn jemand so wißbegierig ist, daß er nicht von einer anderen ihm schon bekannten Ursache, sondern einzig und allein von der Liebe, Unbekanntes zu wissen, getrieben wird, dann ist dieser Wißbegierige zwar zu unterscheiden von dem, der den Namen eines eifrig sich Mühenden trägt, aber Unbekanntes liebt auch er nicht. Vielmehr sagt man zutreffender: Er haßt das Unbekannte, das es nach seinem Wunsche gar nicht geben soll, da er alles erkennen will. Damit uns indes niemand eine noch schwierigere Frage vorlege, indem er mit der Behauptung kommt, daß man ebensowenig hassen könne, was man nicht wisse, wie man lieben könne, was man nicht wisse, so wollen wir uns gegen die Wahrheit nicht sträuben; man muß aber verstehen, daß es nicht dasselbe ist, wenn man sagt: Er liebt Unbekanntes zu wissen, und wenn man sagt: Er liebt Unbekanntes. Das erste kann nämlich vorkommen, daß jemand Unbekanntes zu wissen liebt; daß er aber Unbekanntes liebt, kann nicht geschehen. Es ist nämlich nicht ohne Grund „zu wissen“ hinzugefügt worden. Wer nämlich Unbekanntes zu wissen liebt, liebt nicht das Unbekannte, sondern eben das Wissen. Wenn ihm dies nicht bekannt wäre, könnte er zuversichtlich weder sagen, daß er ein Wissen besitzt, noch, daß er keines besitzt. Denn nicht nur, wer sagt: Ich weiß, und dabei die Wahrheit sagt, muß wissen, was Wissen ist, sondern auch derjenige, welcher sagt: Ich weiß nicht, und dies zuversichtlich und der Wahrheit S. 73 gemäß sagt und weiß, daß er die Wahrheit spricht, muß sicherlich wissen, was Wissen ist. Er unterscheidet ja den Nichtwissenden vom Wissenden, wenn er der Wahrheit gemäß, in sich selbst hineinblickend, sagt: Ich weiß nicht. Und wenn er weiß, daß er dabei die Wahrheit sagt, woher sollte er dies wissen, wenn er nicht wüßte, was Wissen ist?