9. Kapitel. Der Geist erkennt sich eben dadurch, daß er das Gebot, sich zu erkennen, versteht.
12. Nicht also wie einen Abwesenden suche er sich zu erblicken, sondern sorge darum, daß er sich wie einen Gegenwärtigen unterscheide. Und nicht erkenne er sich, als ob er sich noch nicht kannte, sondern von einem anderen, das er kennt, soll er sich wegkennen. Wenn er nämlich das Gebot hört: Erkenne dich selbst, wie wird er sich darum kümmern können, wenn er nicht weiß, was heißt: Erkenne, oder was heißt: dich selbst? Wenn er aber beides kennt, dann kennt er auch sich selbst. Es wird ja dem Geiste nicht in der Weise gesagt: Erkenne dich selbst, wie ihm gesagt wird: Erkenne die Cherubim und Seraphim! Von diesen nämlich, die ja selber abwesend sind, glauben wir, was uns verkündet wird, daß sie nämlich gewisse himmlische Mächte sind. Dies Gebot ergeht auch nicht so, wie es heißt: Erkenne den Willen dieses Menschen! Dieser ist nämlich S. 85 sowohl unserer Wahrnehmung als auch unserer Einsicht nur gegenwärtig durch körperliche Zeichen, die er von sich gibt, und auch dann sind wir mehr auf den Glauben als auf die Einsicht angewiesen. Das Gebot steht auch nicht gleich der Aufforderung an einen Menschen: Schaue dein Antlitz! Das kann nur im Spiegel geschehen. Auch unser Antlitz ist ja für unser Auge abwesend, weil es da keinen Ort gibt, nach dem das Auge hingerichtet werden könnte. Wenn man aber dem Geiste sagt: Erkenne dich selbst!, so erkennt er sich eben in dem Augenblick, in dem er das Wort „dich selbst“ versteht; er erkennt sich aus keinem anderen Grunde als deshalb, weil er sich gegenwärtig ist. Wenn er aber dieses Wort nicht versteht, dann wird er auch nicht nach diesem Gebot handeln. Das also zu tun wird ihm geboten, was er eben tut, wenn er das Gebot selbst versteht.