10. Kapitel. Wer ist in den einzelnen Gotteserscheinungen erschienen?
17. Zunächst nun wird in der Genesis erzählt, daß Gott mit dem Menschen, den er aus Staub gebildet hatte, geredet habe.1 Wenn wir den erzählten Vorgang nicht nur symbolisch erklären wollen, sondern auch am Wortlaut festhalten, dann hat, wie man sieht, Gott in der Gestalt eines Menschen damals mit dem Menschen gesprochen. Das steht nicht ausdrücklich in der Genesis. Aber S. 76 es klingt doch heraus aus der Schilderung der Umstände, von denen der Leser erfährt, insbesondere aus der Erzählung, daß Adam die Stimme des im Garten gegen Abend lustwandelnden Gottes gehört habe und daß er sich mitten unter den Bäumen des Gartens verborgen habe und daß er Gott auf die Frage: „Adam, wo bist du?“,2 geantwortet habe: „Ich habe deine Stimme gehört und habe mich vor deinem Angesichte verborgen, weil ich nackt bin.“3 Wie nämlich dieses Wandeln und Sprechen Gottes wörtlich verstanden werden könnte, wenn Gott nicht in menschlicher Gestalt erschienen wäre, vermag ich nicht einzusehen. Man kann doch nicht sagen, daß nur eine Stimme gehört wurde, wo es heißt: Gott lustwandelte, oder daß der, welcher an einem bestimmten Platze ging, nicht sichtbar gewesen sei, da ja Adam auch sagt, er habe sich vor seinem Angesichte verborgen. Wer war also jener? War es der Vater oder der Sohn oder der Heilige Geist? Oder sprach unterschiedslos Gott, die ganze Dreieinigkeit in der Gestalt eines Menschen zum Menschen? Aus dem Zusammenhang der Heiligen Schrift kann man nirgends erkennen, daß die Erzählung von einer Person zu einer anderen übergeht. Vielmehr scheint derjenige zum ersten Menschen zu sprechen, der sagte: „Es werde Licht“, und: „Es werde das Firmament“,4 und so weiter die übrigen Tage hindurch. Wir verstehen darunter gewöhnlich den Vater, der sagte, daß entstehen sollte, was immer er schaffen wollte. Er schuf ja alles durch sein Wort, unter dem wir nach der rechten Glaubensregel seinen eingeborenen Sohn verstehen. Wenn also Gott Vater zum ersten Menschen sprach und er selbst im Garten gegen Abend wandelte, und wenn sich der Sünder vor seinem Angesichte mitten unter den Bäumen des Gartens verbarg, warum soll man da nicht einsehen, daß er es war, der Abraham, Moses, und wem er sonst wollte und wie er wollte, durch ein ihm hierzu dienendes, wandelbares S. 77 und sichtbares Geschöpf erschienen ist, während er selbst in sich und seiner Substanz, in welcher er unwandelbar und unsichtbar ist, verharrte? Es wäre jedoch möglich gewesen, daß die Schrift unvermerkt von einer Person zur anderen überging, indem sie vom Vater das Wort berichtet: „Es werde Licht“, und die übrigen Werke, die er, wie berichtet wird, durch sein Wort schuf, jedoch dann weiter den Sohn zu dem ersten Menschen sprechen läßt, dies nicht deutlich erklärend, sondern denen, die es zu verstehen vermögen, andeutend.
18. Wer also Kraft genug besitzt, um mit der Schärfe des Geistes in die Tiefe dieses Geheimnisses einzudringen, auf daß ihm Klarheit darüber werde, ob auch der Vater oder nur der Sohn oder der Heilige Geist durch eine sichtbare menschliche Gestalt erscheinen könne, der möge in die Untersuchung dieser Fragen, wenn er kann, eintreten und versuchen, diese Dinge auch mit Worten darzulegen und zu erörtern. Der Vorgang freilich, auf welchen sich das Schriftzeugnis bezieht, nach dem Gott mit dem Menschen redete, ist nach meiner Meinung dunkel, weil sich auch nicht klar erkennen läßt, ob Adam Gott mit leiblichen Augen zu sehen pflegte. Ist es doch überhaupt eine große Frage, welcher Art die Augen waren, die nach dem Genuß der verbotenen Speise geöffnet wurden.5 Diese waren nämlich, bevor sie sahen, geschlossen. Das möchte ich jedoch behaupten, daß Gott, wenn nach den Darlegungen der Schrift das Paradies ein wirklicher Ort ist, dort nur in körperlicher Gestalt wandeln konnte. Man kann nämlich auch sagen, daß nur eine Stimme erklang, welche der Mensch hörte, ohne irgendeine Gestalt zu sehen. Aus dem Satz: „Adam verbarg sich vor dem Angesichte Gottes“ folgt nicht ohne weiteres, daß er Gottes Antlitz zu sehen pflegte. Wie? Wäre es nicht denkbar, daß er zwar Gott nicht sehen konnte, daß er aber fürchtete, von ihm gesehen S. 78 zu werden, dessen Stimme er vernahm und dessen Gegenwart er spürte, da er lustwandelte? Sagt doch auch Kain zu Gott: „Vor deinem Angesichte verberge ich mich.“6 Wir brauchen deswegen nicht anzunehmen, daß Kain mit leiblichen Augen das Antlitz des in einer sichtbaren Gestalt erscheinenden Gottes zu sehen pflegte, mochte er immerhin Gottes Stimme hören, als er ihn über sein Verbrechen fragte und mit ihm darüber sprach. Welcher Art die Worte waren, die Gott damals in den leiblichen Ohren der Menschen erklingen ließ, insbesondere als er zum ersten Menschen sprach, das ausfindig zu machen, ist schwer und gehört nicht zum Fragenkreis unserer jetzigen Abhandlung. Wenn jedoch nur Stimmen und Laute erklangen, durch welche jenen ersten Menschen die Gegenwart Gottes sinnfällig gemacht wurde, so sehe ich nicht ein, warum ich dabei nicht an die Person Gottes des Vaters denken sollte, wo doch seine Person sich auch in einer Stimme offenbarte, als Jesus auf dem Berge vor drei Jüngern verklärt wurde,7 und auch in jener, als bei der Taufe eine Taube auf ihn herabschwebte,8 und in jener, als Christus zum Vater laut von seiner Verherrlichung sprach und die Antwort erhielt: „Ich habe dich verherrlicht, und ich werde dich wieder verherrlichen.“9 Nicht als ob eine Stimme laut werden könnte ohne Wirksamkeit des Sohnes und Heiligen Geistes — die Dreieinigkeit wirkt ja untrennbar —, sondern weil eine Stimme erklang, die nur die Person des Vaters offenbarte, wie jene aus der Jungfrau Maria geborene menschliche Gestalt die Dreieinigkeit gewirkt hat, aber die Person allein des Sohnes ist. Denn die sichtbare Person des Sohnes hat die unsichtbare Dreieinigkeit gewirkt. Nichts hindert uns, anzunehmen, daß die von Adam gehörten Stimmen nicht nur von der ganzen Dreieinigkeit gewirkt wurden, sondern auch die Person der Dreieinigkeit als gegenwärtig erwiesen. Dort nämlich, wo es heißt: S. 79 „Dieser ist mein geliebter Sohn“,10 sind wir gezwungen, ausschließlich an die Person des Vaters zu denken. Denn von Jesus kann man nicht glauben oder annehmen, daß er der Sohn des Heiligen Geistes oder sein eigener ist. Auch dort, wo das Wort erklang: „Ich habe dich verherrlicht und werde dich wieder verherrlichen“,11 dürfen wir nur an die Person des Vaters denken. Es ist nämlich die Antwort auf das Wort des Herrn: „Vater, verherrliche deinen Sohn!“ Das konnte er nur zu Gott Vater sagen, nicht zum Heiligen Geiste, dessen Sohn er nicht war. Warum man jedoch bei dem Worte: „Und es sprach der Herr Gott zu Adam“,12 nicht an die ganze Dreieinigkeit denken soll, läßt sich nicht begründen.
19. Ähnlich ist auch bei dem Worte: „Es sprach der Herr zu Abraham: Ziehe weg von deinem Lande und von deiner Verwandtschaft und vom Hause deines Vaters“,13 nicht klar, ob nur eine Stimme an die Ohren Abrahams getragen wurde oder ob auch die Augen eine Erscheinung hatten. Ein wenig später heißt es klarer: „Der Herr erschien Abraham und sagte zu ihm: Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben.“14 Aber auch hier kommt nicht zum Ausdruck, in welcher Gestalt ihm der Herr erschien, ebenso nicht, ob es der Vater oder der Sohn oder der Heilige Geist war. Man müßte schon etwa deshalb annehmen, daß der Sohn erschienen sei, weil es nicht heißt: Es erschien ihm Gott, sondern: „Es erschien ihm der Herr.“ Herr scheint nämlich förmlich der Eigenname des Sohnes zu sein nach dem Worte des Apostels: „Mag man auch von Göttern im Himmel und auf Erden reden — wie man denn von vielen Göttern und von vielen Herren redet —, für uns gibt es nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge stammen und für den wir sind, und nur einen Herrn: Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und von dem auch wir S. 80 das Dasein haben.“15 Da man indes auch für Gott Vater an vielen Stellen die Bezeichnung Herr findet, zum Beispiel in dem Psalmwort: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“16 oder an der anderen: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten“,17 da sich auch für den Heiligen Geist die Bezeichnung Herr findet, so, wenn der Apostel sagt: „Der Herr ist der Geist“18 — damit niemand glaube, daß hier der Sohn gemeint sei, daß er etwa wegen seiner körperlosen Substanz Geist heiße, fährt die Schrift fort: „Wo der Geist des Herrn ist, dort ist Freiheit;“19 daß aber der Geist des Herrn der Heilige Geist ist, wird niemand bezweifeln —, wird auch hier nicht klar ersichtlich, ob eine Person aus der Dreieinigkeit oder Gott selbst die Dreieinigkeit, von dem es heißt: „Du sollst den Herrn deinen Gott allein anbeten“,20 Abraham erschienen ist. Unter der Eiche von Mambre aber sah er drei Männer, die er einlud und in Gastfreundschaft aufnahm, bewirtete und bediente.21 Wo jedoch die Schrift die Erzählung dieses Vorgangs beginnt, sagt sie nicht: Es sind ihm drei Männer erschienen, sondern: „Es erschien ihm der Herr.“22 Als sie dann weiter auseinanderlegt, wie ihm der Herr erschien, bringt sie die Erzählung von den drei Männern, welche Abraham in der Mehrzahl einlädt, seine Gäste zu sein. Später redet er sie in der Einzahl an, wie wenn es einer wäre. Und wie wenn es ein einziger wäre, verspricht er ihm von Sara einen Sohn. Die Schrift nennt ihn Herrn, wie sie zu Beginn der Erzählung sagt: „Der Herr erschien Abraham.“ Abraham lädt also ein, wäscht die Füße und gibt beim Weggang das Geleite, wie wenn es sich um Menschen handelte. Er spricht aber mit ihnen wie mit Gott dem Herrn, sowohl als ihm ein Sohn verheißen wie auch als ihm der bevorstehende Untergang Sodomas angekündigt wurde.
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Gen. 3, 8―10. ↩
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Gen. 3, 9. ↩
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Gen. 3, 10. ↩
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Gen. 1, 3. 6. ↩
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Gen. 3, 7. ↩
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Gen. 4, 14. ↩
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Matth. 17, 5. ↩
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Matth. 3, 16. ↩
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Joh. 12, 28. ↩
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Matth. 3, 17. ↩
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Joh. 12, 28. ↩
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Gen. 3, 9. ↩
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Gen. 12, 1. ↩
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Gen. 12, 7. ↩
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1 Kor. 8, 5 f. ↩
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Ps. 2, 7 [hebr. Ps. 2, 7]. ↩
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Ps. 109, 1 [hebr. Ps. 110, 1]. ↩
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2 Kor. 3, 17. ↩
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2 Kor. 3, 17. ↩
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Deut. 6, 13. ↩
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Gen. 18. ↩
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Gen. 18, 1. ↩