7. Kapitel. Im Sohne sind zwei Wesenselemente, von denen das eine geringer ist als das andere.
14. Durch solche und ähnliche Zeugnisse der Heiligen Schrift, welche, wie gesagt, unsere literarischen Vorgänger in größerem Umfange verwerteten und mit denen sie derartige Verdrehungen und Irrtümer der Häretiker widerlegten, wird die von unserem Glauben gelehrte Einheit und Gleichheit der Dreieinigkeit erwiesen. Weil sich jedoch in der Heiligen Schrift wegen der Menschwerdung des Wortes Gottes, welche zur Wiederherstellung unseres Heiles erfolgte, auf daß der Mensch Christus Jesus Mittler zwischen Gott und den Menschen sei,1 viele Texte finden, in welchen der Vater größer als der Sohn genannt oder ganz unzweideutig als größer erwiesen wird, deshalb gerieten Leute, die nicht sorgfältig genug den Gesamtzusammenhang der Schrift erforschten und beachteten, in Irrtum, und versuchten, die Aussagen, welche sich auf die menschliche Seite in Christus Jesus beziehen, auf sein ewiges Wesen, welches vor der Menschwerdung bestand und immer besteht, zu übertragen. Solche Leute behaupten nun, der Sohn sei geringer als der Vater, weil der Herr nach dem Zeugnis der Schrift selbst sagte: „Der Vater ist großer als ich.“2 Die Wahrheit jedoch ist die, daß der Sohn auf diese Weise auch geringer als er selbst kundgetan wird. Denn wie sollte jener nicht auch geringer geworden sein als er selbst, der „sich selbst erniedrigte, indem er die Knechtsgestalt annahm“.3 Er nahm S. 20 ja die Knechtsgestalt nicht so an, daß er die Gottesgestalt verlor, in welcher er dem Vater gleich war. Wenn also die Knechtsgestalt in der Weise angenommen wurde, daß die Gottesgestalt nicht verlorenging, da er in der Knechtsgestalt und in der Gottesgestalt der gleiche eingeborene Sohn Gottes des Vaters ist, in der Gottesgestalt dem Vater gleich, in der Knechtsgestalt Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, wer würde da nicht einsehen, daß er in der Gottesgestalt auch größer ist als er selbst, in der Knechtsgestalt dagegen geringer als er selbst? Nicht mit Unrecht sagt daher die Schrift beides, daß nämlich der Sohn dem Vater gleich ist und daß der Vater größer ist als der Sohn. Das erstere ist von der Gottesgestalt, das letztere von der Knechtsgestalt ohne Verwischung des Unterschieds zu verstehen. Diese Regel, welche zur Lösung aller für unsere Frage in Betracht kommenden Schrifttexte dient, entnehmen wir einem Kapitel eines Briefes des Apostels Paulus, wo uns jene Unterscheidung deutlich genug nahegelegt wird. Er sagt nämlich: „Der, da er in der Gestalt Gottes war, es nicht für einen unrechtmäßigen Besitz hielt, Gott gleich zu sein, sich aber selbst erniedrigte, Knechtsgestalt annahm, den Menschen ähnlich wurde und im Äußern wie ein Mensch erfunden ward.“4 Der Sohn Gottes ist also Gott dem Vater durch seine Natur gleich, durch sein Äußeres ist er geringer als der Vater. In der Knechtsgestalt nämlich, die er annahm, ist er geringer als der Vater, in der Gottesgestalt aber, in welcher er war, schon bevor er die Knechtsgestalt angenommen hatte, ist er dem Vater gleich. In der Gottesgestalt ist er das Wort, durch das alles geworden ist;5 in der Knechtsgestalt aber ist er geworden aus dem Weibe, unterworfen dem Gesetze, damit er die, welche unter dem Gesetze stehen, erlöse.6 In der Gottesgestalt schuf er den Menschen, in der Knechtsgestalt wurde S. 21 er Mensch. Wenn nämlich nur der Vater ohne den Sohn den Menschen geschaffen hätte, dann stünde nicht geschrieben: „Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis.“7 Weil also die Gottesgestalt die Knechtsgestalt annahm, ist er beides: Gott und Mensch, Gott jedoch wegen des annehmenden Gottes, Mensch aber wegen des angenommenen Menschen. Denn nicht ist durch diese Aufnahme das eine in das andere gewandelt oder umgebildet worden, nicht ist die Göttlichkeit in das Geschöpf umgewandelt worden, so daß sie aufhören würde, Göttlichkeit zu sein, nicht das Geschöpf in die Göttlichkeit, so daß es aufhören würde, Geschöpf zu sein.